Ein wildes Herz
wie er es machen sollte, doch der alte Tolley, der ihm die drei Wochen alten Ferkel verkauft hatte, der sie für Charlie gemästet hatte, seit sie auf der Welt waren, hatte es ihm genau erklärt, Schritt für Schritt, das mit dem Pökeln, mit der Grube, dass man sie mit geschmolzener Butter und Apfelwein einpinselte, und wie lange, wie heiß und wie nah am Feuer man sie grillte. Das machte der alte Mann schon, seit er ein Junge gewesen war, und vor ihm sein Vater, und so war es fast so, als würde man sich von Leonardo Da Vinci das Malen beibringen lassen, wenn der alte Tolley einem erklärte, wie man ein Spanferkel zubereitete.
»Sind das Baby-Schweinchen?«, fragte Sam und schaute skeptisch auf die beiden graurosa Körper, die in kleinen Wannen in der Salzlake schwammen.
»Na ja, älter werden sie jedenfalls nicht mehr«, sagte Will, »aber das ist mit Sicherheit das beste Schweinefleisch, das du in deinem Leben essen wirst.«
»Ich wünschte, es wären keine Babys.«
»Wenn du etwas isst, dann solltest du auch wissen, woher es kommt. Du bist jetzt sechs Jahre alt. Du musst achtsam sein. Das zeigt Respekt. Denk immer daran. Einen vollen Bauch kriegt man nicht von ungefähr.«
»Nur von Luft und Liebe kann niemand leben«, fügte Charlie hinzu.
»Ich brauche nichts zu essen«, sagte Sam.
»Jeder braucht etwas zu essen.«
»Ich nicht. Ich hab mein Kaugummi!«, rief Sam und ließ einige seiner Schätze aus der Hosentasche purzeln.
»Wo hast du die denn her, Junge?«, fragte Will, sammelte die Kaugummis auf und hielt sie ihm entgegen.
»Von dem Baum. Dem Zauberbaum.«
»Ich war’s, Will. Ich hab ihm die gegeben.«
»Wäre mir lieber, das hätten Sie nicht getan, Charlie. Alma wird das nicht gutheißen, wissen Sie.«
»Sam?« Charlie kniete vor dem Jungen auf dem Boden. »Wenn wir ab jetzt ein Kaugummi vom Baum pflücken, fragst du vorher immer deine Mutter, okay?«
»Äh … Na ja, okay.«
»Denk doch mal nach. So halten sie viel länger. So halten sie ewig, dein ganzes Leben lang.«
»Und wie lange wird das sein?«
»Mindestens hundert Jahre. Hundertsiebenundneunzig Jahre.«
»Das ist eine lange Zeit.«
»Das ist eine sehr, sehr lange Zeit.«
»Leben manche Schweine auch so lang?«
»Nein, Sam. Nur Jungen. Nur einige Jungen.«
»Und du auch? Und Daddy?«
»Das hoffe ich ganz fest.«
Während sie sprachen, hatte sich der Himmel draußen von Weiß zu Schwarz verfärbt, die Luft war zum Schneiden dick geworden, und dann gab es plötzlich ein Krachen, einen Blitz, der Himmel öffnete sich, und es gab einen Wolkenbruch, so heftig, dass man die andere Straßenseite nicht erkennen konnte und Will die Lichter in der Metzgerei einschalten musste. Mitten am Tag war es finster wie bei Nacht.
Das Gewitter dauerte fünf Minuten, und als es vorüber war, hatte es ein paar Grad abgekühlt, und der Himmel war so blau wie die Augen eines Babys. Ein perfekter Augusttag
in Virginia. Einen solchen Tag zu erleben, auch nur ein einziges Mal im Leben, das war ein Segen.
In gerade einmal fünf Minuten hatte das Gewitter Zerstörung und Perfektion zugleich geschaffen. Äste lagen herum, Telefonleitungen waren gekappt. Susie Hostetter, die Dame in der Telefonvermittlung, packte ihre Sachen zusammen und machte Feierabend.
Das Feuer in Charlies Grube hatte der Sturm nicht gelöscht, doch als sie zu der Grube kamen, stiegen vulkanische Dämpfe daraus empor. Die Schweinchen steckten auf Spießen, bis es ein Uhr war, und wurden alle fünfzehn Minuten per Hand von Charlie mittels einer eigens vom Schmied in Lexington angefertigten Kurbel gedreht. Das Fett von den langsam sich drehenden Körpern tropfte ins Feuer, kleine Flammen zischten hoch und züngelten am allmählich knusprig werdenden Fleisch. Charlie hielt Eimer frischen Wassers aus dem Fluss bereit, um die Kohle damit zu bespritzen, damit die Haut der Schweinchen nicht verbrannte, bevor das Fleisch gar war. Alle zwanzig Minuten strich er das Grillgut mit einem Pinsel ein, den er in geschmolzenes Fett und Apfelwein getaucht hatte.
Ab zwei Uhr kamen die Gäste. Er hatte mehr als hundert eingeladen, auch einige der Schwarzen in der Stadt, obwohl er wusste, dass sie nicht kommen würden, was auch der Fall war. Und sie wussten, dass Charlies Einladung aufrichtig war, von Herzen kam und tiefer Zuneigung zu ihnen entsprach, ebenso wie ihnen klar war, dass sie an jenem Nachmittag auf dem Feld draußen am Fluss fehl am Platze sein würden. Reverend Lewis Shadwell hatte
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