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Ein wildes Herz

Ein wildes Herz

Titel: Ein wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Goolrick
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in Erwägung gezogen, hinzugehen und sich sogar angezogen, ein Geschenk für Sam lag eingepackt auf seinem Schreibtisch, doch in letzter Minute geriet er ins Zaudern, hängte
dann seine Sonntagskleidung zurück in den Schrank und legte sich im Unterhemd auf sein Bett und machte in der frischen Nachmittagsluft ein Nickerchen. Als er wieder aufwachte, war das, was draußen am Fluss passierte, bereits Geschichte.
    Nach dem Gewitter lag ein Gefühl von Leichtigkeit in der Luft und in den Herzen der Menschen. Eine Band, die Charlie den weiten Weg aus Fincastle hatte anreisen lassen, machte Musik, eine Bluegrass-Band, die all die Lieder spielte, mit denen die Leute in der Stadt aufgewachsen waren, die sie aber nicht mehr so oft hörten, Lieder wie »The Knoxville Girl« mit seiner traurigen Geschichte von Mord und Reue. »She fell down on her bended knees, for mercy she did cry/Oh, Willie, dear, don’t kill me here, I’m unprepared to die.« Der Sänger der Gruppe war ein alter Mann. Er sang die Lieder, die ihm sein Großvater beigebracht hatte, und spielte die Fiedel, ohne auch nur einmal die Miene zu verziehen oder aufzuschauen, während zwei andere Männer Banjo und Gitarre spielten, die Gesichter so scharf und klar wie der Klang ihrer Instrumente.
    Die Leute hörten die Lieder, die Musik der Berge und Täler, aus denen sie kamen, Lieder von Liebe und von Mord und unfruchtbaren Feldern, einem harten, harten Leben der Entbehrung, sie hörten den alten Mann, hörten die flachen Stimmen vom Lande, wie sie ihre Großmütter und Großväter gehabt hatten, hörten die Lieder, denen sie auf den breiten Holzveranden ihrer Kindheit gelauscht hatten.
    Und dann kam Sylvan. Sylvan und Boaty stiegen aus ihrem vulgären, schicken Auto, und Sylvan trug das grüne Kleid aus dem Film. Sie hatte versucht, Claudie dazu zu bewegen, auch zu kommen, weil sie Claudie für die einzige Schwarze hielt, die genug Chuzpe hatte, hier aufzutauchen,
doch Claudie hatte sich aus der Affäre gezogen, indem sie sagte, sie könne Evelyn Hope nicht so lange alleine zu Hause lassen. Doch dann ließ sie sie doch alleine, setzte sich an das Flussufer gegenüber und fertigte Zeichnungen von all dem an, was drüben vorging, vor allem von Sylvan.
    Sylvan stand in der vollen Blüte ihrer zwanzig Jahre, und sie war so leuchtend und hell wie die frische Sommerluft am Fluss. Ihre Begrüßung von Charlie fiel sehr diskret aus, weder zu distanziert noch zu vertraut, und dann mischten sie und Boaty sich unter die Leute, als hätten sie und Charlie nie Haut an Haut und Körper an Körper gelegen, vor den Augen des Jungen, der damals noch nicht einmal sechs Jahre alt gewesen war.
    Natürlich gab es Geschenke für Sam, jeder hatte ihm eine Kleinigkeit mitgebracht, und er war wie betrunken von all seinen Schätzen. Pfeifen und Jojos, kleine Peitschen und Spielzeugpistolen, jeder hatte etwas gekauft, von dem er glaubte, es würde ihm gefallen, weil sie alle Will mochten und ihn bewunderten, und Alma erst recht. Und auch, weil sie hofften, durch ihre Großzügigkeit die Noten ihrer eigenen Sprösslinge zu verbessern, die sich durch die Schule kämpften, oder die Qualität des Hackfleischs, das sie bei Will in der Metzgerei kauften. Alma schrieb jedes Geschenk in ein kleines Büchlein mit linierten Seiten und fragte sich, wie lange Sam wohl brauchen würde, um sich bei jedem persönlich mit einem Kärtchen zu bedanken.
    Charlie sah Claudie am anderen Flussufer, alle sahen sie. Er ging bis zum Wasser hinunter, winkte ihr zu und rief und bedeutete ihr, doch herüberzukommen, aber die Schneiderin gab nicht einmal zu verstehen, dass sie ihn gesehen hatte. Selbst als Sylvan sich aus der Menge löste und sie beim Namen rief, sich einmal um die eigene Achse drehte, sodass
jeder das karierte Futter des grünen Kleides sehen konnte, blickte sie nicht auf.
    Die Leute wussten nicht, was sie von dem Kleid halten sollten. Es war so extravagant, so jenseits dessen, was irgendeine Frau hier in der Stadt sich je hätte kaufen oder auch nur nähen können. Irgendwie wirkte es wie ein wildes Tier aus Afrika oder wie ein Pinguin vom Südpol. Die Leute sahen nicht, wie hübsch es war oder wie es Leben in Sylvans üppigen Körper brachte: In ihren Augen war es nur ein Trick von ihr, mit dem sie die Leute dazu bringen wollte, etwas anderes in ihr zu sehen als das, was sie war  – eine Landpomeranze aus irgendeinem gottverlassenen Tal, das die meisten von ihnen noch nie gesehen hatten. Sie

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