Ein Wispern unter Baker Street: Roman (German Edition)
beginnen: »He Sie, haben Sie an der Universität Magie gelernt?«, war nicht drin. Wir hatten stattdessen einen raffinierten Plan entwickelt. Beziehungsweise, Lesley hatte ihn entwickelt.
Die Tür öffnete sich sofort, was bedeutete, dass der Rezeptionist die Bewohner doch per Haustelefon gewarnt hatte. In der Tür stand eine Frau mittleren Alters mit abgespanntem Gesicht, blauen Augen und Haaren von der Farbe schmutzigen Strohs. Als sie Lesleys Maske erblickte,trat sie unwillkürlich einen Schritt zurück – es funktioniert doch jedes Mal.
Ich stellte mich vor und zeigte ihr meinen Dienstausweis. Sie warf mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen einen vorsichtigen Blick darauf, dann auf mich. Ihre Kleidung – schlichter brauner Rock mit dazu passender Bluse und Strickjacke – wurde seltsamerweise durch eine umgekehrt an ihrer Brusttasche befestigte Analoguhr ergänzt, wie sie Krankenschwestern trugen. Eine im Haushalt lebende Pflegerin vielleicht?
»Wir möchten mit Mr. Woodville-Gentle sprechen«, sagte ich. »Ist er zu Hause?«
»Er hält um diese Zeit Mittagsruhe.« Sie hatte einen slawischen Akzent, russisch oder ukrainisch, tippte ich.
»Wir können warten«, sagte Lesley. Die Frau starrte sie an und runzelte die Stirn.
»Darf ich fragen, wer Sie sind?«, fragte ich.
»Varenka«, sagte sie. »Ich bin Mr. Woodville-Gentles Pflegerin.«
»Dürfen wir reinkommen?«, fragte Lesley.
»Ich weiß nicht«, sagte Varenka.
Ich zog mein Notizbuch heraus. »Können Sie mir bitte Ihren Nachnamen nennen?«
»Dies ist eine offizielle Ermittlung«, fügte Lesley hinzu.
Varenka zögerte, dann trat sie – widerwillig, wie mir schien – von der Türschwelle zurück. »Bitte. Kommen Sie herein. Ich sehe nach, ob Mr. Woodville-Gentle wach ist.«
Interessant, dachte ich, dass sie uns lieber hereinlässt als uns ihren Nachnamen zu verraten.
Die Wohnung war im Prinzip ein langes Viereck mit Wohnzimmer und Küchenzeile auf der linken und denSchlafzimmern und, wie ich annahm, dem Bad auf der rechten Seite. Sämtliche Wände waren voller Bücherregale, und wegen der zugezogenen Vorhänge war die Luft stickig, mit einem Hauch Desinfektionsmittel und Schimmel darin. Varenka führte uns ins Wohnzimmer und bat uns zu warten, und ich schaute mir die Bücher an. Die meisten sahen aus wie aus dem Charity Shop – mit eingerissenen Schutzumschlägen, die Taschenbücher mit ausgeblichenen Buchrücken. Aber wo sie auch gekauft worden waren, sie waren, soweit ich sehen konnte, peinlich genau nach Thema und dann nach Autor geordnet. Es gab zwei Regalbretter, die anscheinend jeden einzelnen Patrick O’Brien bis zu Der gelbe Admiral enthielten, sowie an anderer Stelle ein ganzes Regal Penguin-Taschenbücher aus den fünfziger Jahren.
Mein Dad schwor auf diese Penguins – er behauptete, sie hätten einen so umwerfenden Ruf gehabt, dass man sich nur mit einem in das richtige Café in Soho hätte setzen und so tun müssen, als würde man es lesen, dann sei man von beeindruckbaren jungen Damen umschwärmt worden, bevor man noch seinen zweiten Espresso bestellen konnte.
Lesley piekste mich in den Arm, um mich daran zu erinnern, ein strenges, offizielles Gesicht zu machen, als Varenka davoneilte, um Albert Woodville-Gentle zu wecken.
»Er sitzt im Rollstuhl«, flüsterte Lesley.
Am Abstand zwischen dem Mobiliar und der Position des Esstischs war zu erkennen, dass die Wohnung behindertengerecht eingerichtet war. Lesley fuhr mit der Fußspitze über den bordeauxroten Teppichboden, um mir zu zeigen, wo die schmalen Räder Spuren hinterlassen hatten.
Am anderen Ende der Wohnung waren gedämpfte Stimmen zu hören. Ein paarmal wurde Varenka lauter, musstesich aber wohl schließlich geschlagen geben, denn ein paar Minuten später schob sie ihren Patienten herein.
Von Leuten im Rollstuhl erwartet man immer, dass sie ausgezehrt aussehen, daher war ich fast schockiert, wie rundlich, rosig und strahlend Mr. Woodville-Gentle wirkte. Zumindest strahlte der größte Teil seines Gesichts. Nach rechts hin wurde es merklich schlaff. Das konnte von einem Schlaganfall stammen, allerdings konnte er beide Arme voll bewegen – wenn auch mit deutlichem Zittern. Seine Beine waren unter einer karierten Decke verborgen, die bis über seine Füße reichte. Er war glattrasiert, machte einen sehr gepflegten Eindruck und schien sich aufrichtig zu freuen, uns zu sehen. Nur falls es Sie interessiert, das ist ein weiteres dickes Kreuz auf dem
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