Ein Wispern unter Baker Street: Roman (German Edition)
Visitenkarte. Darauf standen sein Name, seine Handynummer, Mail- und Faxadresse. Seine Tätigkeitsbeschreibung lautete Assistent, Madame Teng . Die Rückseite zeigte die schwarze Silhouette eines stilisierten chinesischen Drachens auf weißem Grund.
»Wer war das?«, fragte ich.
»Was glauben Sie?«, gab Fleet zurück.
Sie schnippte mit den Fingern, und ich schwöre, ein Wildfremder unterbrach sein Gespräch, schlängelte sich durch die Menge, bis er eine Kellnerin fand, kam zu uns und drückte Fleet ein Glas Wein in die ausgestreckte Hand. Dann kehrte er zu seinen Freunden zurück und nahm unter ihren verwunderten Blicken das Gespräch dort wieder auf, wo er es unterbrochen hatte.
Fleet trank einen Schluck und lächelte mich schuldbewusst an. »Sagen Sie das Mum nicht weiter. Eigentlich sollen wir uns unauffällig benehmen.«
Plötzlich bemerkte ich, dass der Geruch nach nassem Hund nicht von Fleet kam. Von irgendwoher hatte sich ein Hund herangeschlichen und zu ihren Füßen gesetzt. Es war ein gefleckter Border Collie, der mich mit wachen Augen musterte – eines bernsteinfarben und eines blau. Seltsam war nur, dass der Hund völlig trocken war.
Er nahm die einschüchternde Haltung an, mit der Schäferhunde ihre Herde in Schach halten. Ich nahm die einschüchternde Haltung an, mit der die Polizei die Bürger gern in einem Zustand unbestimmten Schuldbewusstseins hält. Der Hund fletschte die Zähne, und ich wäre wahrscheinlich so weit gegangen, missbilligend mit der Zunge zuschnalzen, hätte Fleet ihm nicht befohlen, sich hinzulegen – was er auch prompt tat.
Erst da fiel mir ein, dass Hunde in der Galerie eigentlich verboten waren.
»Es ist ein Arbeitshund«, sagte Fleet, bevor ich nachfragen konnte.
»Ah? Und was ist sein Job?«
»Er ist der Rudelführer meiner Hunde.«
»Wie viele Hunde haben Sie denn?«
Sie nahm wieder einen Schluck Wein. »So viele, dass ich nicht allein damit fertig werde. Deshalb brauch ich einen Rudelführer, der sie im Zaum hält.«
»Wie heißt er denn?«, fragte ich.
Sie grinste. »Scooby-Doo.«
Na klar, dachte ich.
»Werden Sie Madame Teng anrufen?«, wollte sie wissen.
Nicht ohne vorher mit Nightingale zu reden, dachte ich. »Weiß nicht. Mal sehen.«
»Was machen Sie eigentlich hier?«
»Mich hat plötzlich ein unbezähmbares Interesse an zeitgenössischer Kunst überfallen. Und Sie?«
»Ich soll morgen in Radio Four über die Vernissage berichten. Wenn Sie’s verpassen, können Sie es sich auch später noch auf der Website anhören. Und Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Ich dachte schon.«
»Sind Sie beruflich hier?«
»Nicht im Mindesten. Ich will nur meinen Horizont erweitern.«
»Na«, sagte Fleet, »dann schauen Sie sich mal das Stück am anderen Ende an – das sollte Sie angemessen erweitern.«Am anderen Ende der Fläche stand nur ein Exponat, direkt an der nackten Ziegelwand. Die Menge war hier merklich ausgedünnt. Es ging mir durch und durch, sobald ich mich ihm näherte – wie der Anblick einer schönen Frau, wie Lesleys verunstaltetes Gesicht, wie ein Sonnenuntergang oder ein schrecklicher Verkehrsunfall. Ich erkannte, dass es diese Wirkung auch auf die anderen Besucher hatte – niemand kam ihm näher als einen Meter, und die meisten verkrümelten sich schnell wieder.
Ich tat noch einen Schritt, und mit einem Mal durchfuhr mich ein wildes, schreiendes Entsetzen, als sei ich an die Vorderfront einer U-Bahn gebunden worden und raste die Northern Line entlang. Kein Wunder, dass die Leute Abstand hielten. Es war das stärkste Vestigium , das mir je begegnet war. In die Herstellung dieses Kunstwerks war etwas entschieden Magisches mit eingeflossen.
Ich holte tief Atem, nahm noch einen Schluck Wein und begann es mir genauer anzusehen.
Die Schaufensterpuppe war von derselben Sorte wie die übrigen in der Galerie, nur hatte sie die Arme ausgestreckt und die Handflächen nach oben gekehrt wie im Gebet oder in flehender Bitte. Am Körper trug sie etwas, das jeder mit einem minimalen Interesse an chinesischer Geschichte oder Dungeons & Dragons als die Art Schuppenpanzer erkennen konnte, wie ihn die chinesischen Terrakotta-Krieger tragen – eine Art Tunika, die aus schuppenförmig übereinandergesetzten rechteckigen Tonplättchen im Spielkartenformat bestand. Doch hier war in jedes der Plättchen ein Gesicht eingeritzt. Obwohl sie nur aus einem Umriss mit Schlitzen oder Punkten als Augen und angedeuteter Nase bestanden, war jedes der
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