Ein Wispern unter Baker Street: Roman (German Edition)
Gesichter individuell gestaltetund trug einen deutlichen Ausdruck der Trauer und Verzweiflung.
Ich konnte diese Verzweiflung spüren – und eine seltsame Ehrfurcht.
Ein schlanker Mann Anfang dreißig mit langem Gesicht, kurzem braunem Haar und einer runden Brille gesellte sich zu mir vor das Kunstwerk. Ich erkannte ihn von dem Bild auf James Gallaghers Flyer. Es war Ryan Carroll, der Künstler. Er trug einen schweren Mantel und fingerlose Handschuhe – nein, er gehörte definitiv nicht zu denen, die Stil vor Komfort setzten. Ich registrierte es beifällig.
»Gefällt es Ihnen?«, fragte er. Er hatte einen weichen irischen Akzent, den ich, hätte man mir eine Pistole an den Kopf gehalten, als Dubliner Mittelschicht eingeordnet hätte, aber nicht mit allzu großer Gewissheit.
»Es ist schrecklich«, sagte ich.
»Ja«, sagte er. »Und grauenerregend – bilde ich mir jedenfalls gern ein.«
»Hm, das auch.« Das schien ihn zu freuen.
Ich stellte mich vor, und er drückte mir die Hand. Er hatte farbfleckige Finger und einen festen Griff.
»Polizist? Sind Sie beruflich hier?«
»Ich fürchte ja. Es geht um den Mord an einem Kunststudenten namens James Gallagher.«
Carroll zeigte keine Reaktion. »Kenne ich ihn?«
»Er war ein Bewunderer von Ihnen«, sagte ich. »Hat er jemals Kontakt zu Ihnen gesucht?«
»Wie war noch mal der Name?«
»James Gallagher.« Wieder nicht die kleinste Reaktion. Ich suchte ein Foto auf meinem Handy heraus und zeigte es ihm.
»Tut mir leid, nein«, sagte er.
An diesem Punkt muss man als Polizist eine Entscheidung treffen – fragt man nach dem Alibi oder nicht? Nach fünfzig Jahren Fernsehkrimis weiß selbst der begriffsstutzigste Mitbürger, was es bedeutet, wenn er gefragt wird, wo er zu einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Tag war. Niemand glaubt an die Geschichte von der »reinen Routine«, selbst wenn es tatsächlich mal so ist. Da Ryan Carrolls Skulptur Vestigia vom Ausmaß einer Fernsehübertragung ausstrahlte, vermutete ich, dass er in irgend was mit drinsteckte, aber ich hatte keine Beweise, dass er jemals in Kontakt mit Gallagher gekommen wäre. Ich beschloss, ihn heute Abend in die Ermittlungsdatei einzuspeisen und Seawoll oder Stephanopoulos entscheiden zu lassen, ob er vernommen werden sollte. Wenn er von jemand anderem aus der Mordkommission befragt wurde, konnte ich mich, während er dadurch abgelenkt war, auf die magische Seite der Sache konzentrieren.
Es ist immer ein schönes Gefühl, wenn sich ein Plan herauskristallisiert, vor allem wenn er besagt, dass jemand anders die Hauptarbeit übernehmen muss. Ich deutete mit meinem Glas auf die Schaufensterpuppe in ihrem Mantel aus Verzweiflung.
»Haben Sie die selbst gemacht?«
»Mit meinen eigenen Händen«, sagte er.
»Damit werden Sie bestimmt ordentlich Kohle machen.«
»Das ist der Plan«, gab er selbstzufrieden zurück.
Da winkte ihm eine blonde Frau in blauem Kleid zu. Als sie seine Aufmerksamkeit hatte, zeigte sie auf ihre Armbanduhr.
»Sie müssen mich entschuldigen, Constable«, sagte er.»Die Pflicht ruft.« Er ging zu der Blonden hinüber, die ihn am Arm nahm und sanft zu der wartenden Menge zog. Dabei zupfte sie an seinem Kragen herum. Seine Managerin oder Partnerin, überlegte ich, oder möglicherweise beides.
Die meisten Gäste scharten sich um die beiden, und ich hörte, wie die Frau zu sprechen begann – unverkennbar die einleitenden Worte. Ich ahnte, dass er gleich seine Dankesrede halten würde, und wandte mich wieder seinem Werk zu. Die Frage war – hatte er die Vestigia hineingearbeitet, oder kamen sie von einem objet trouvé ? Und wenn, war sich Ryan dessen Bedeutung bewusst?
Mein Handy klingelte. Es war Zach.
»Sie müssen mir helfen«, sagte er.
»So? Warum denn?«
»Sein Alter hat mich rausgeworfen. Ich hab kein Dach überm Kopf.«
»Versuchen Sie’s bei Turning Point. Die haben ein großes Obdachlosenasyl im Westen. Da können Sie die Nacht über bleiben.«
»Sie schulden mir was!«
»Überhaupt nicht.« Eine der Lektionen, die man bei der Polizei lernen muss, ist, dass jeder arm dran ist, sogar der Kerl, den man gerade verhaftet hat, weil er seiner Frau eine Fritteuse ins Gesicht geknallt hat. Und Schlawiner wie Zach kamen oft überzeugender rüber als Menschen, die tatsächlich Probleme hatten – das lag wahrscheinlich an der Übung.
»Ich glaub, die sind hinter mir her«, fügte er hinzu.
»Wer sind die ?«
Hinter mir applaudierte die Menge.
»Wenn Sie mich
Weitere Kostenlose Bücher