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Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Titel: Einarmig unter Blinden - Roman: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Jessen
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meinem Magen bemerkbar. Alles egal. Ich renne! Schneller als Forrest und Lola zusammen. Es ist Zeit. Ich werde mich endlich überholen.

Erstes Ende
    Man muss tun, was man tun muss. Damit fängt alles an und damit hört alles auf. Ich muss rennen. Und das tue ich! Ich renne und renne, zurück zu meinem Anfang.
    Meine Brauen halten dem Schweiß nicht mehr stand. In einer Tour tropft mir ein warmes Gemisch aus Salzwasser und Haarwachs in die Augen. Aber weil die Jogger-Lady immer wieder zu mir herüberschaut und ich auf einmal seltsam eitel bin, muss meine Hornhaut sekundenlang leiden und brennen, bis ich mir erlaube, die Augen sauber zu wischen.
    Ich glaube, eben hat sie es gesehen.
    Und gelächelt.
    Auf einen Kilometer bin ich an ihr dran!
    Unerwartet prustet es plötzlich von rechts: »Ist gut jetzt. Ich weiß, was du vorhast!« Aber ich finde, ihre Stimme klingt weicher, zwei Stufen höher und geschmeichelter – im Gegensatz zu der ersten Kontaktaufnahme.
    »Entschuldige, du bist so weit vorne. Kann dich leider nicht hören«, entgegne ich und lache – zum Glück nur in mich hinein. Ich bin jetzt nur noch etwa hundert Meter hinter ihr. Doch mein emotionaler Point of no Return ist überschritten. Ich will nicht mehr warten. Also stelle ich mein Band langsamer, verdecke die Anzeige mit meiner linken Hand und sage: »Hey, wenn du willst, können wir in dem Café gegenüber was trinken gehen. Falls du mich jetzt hören kannst.«
    »Gern. Bis gleich«, entgegnet die Jogger-Lady, lächelt, nimmt einen Schluck aus ihrer Seltersflasche und geht schnurstracks Richtung Umkleidekabinen.
    Ich warte, bis sie um eine Ecke verschwunden ist. Dann schalte ich auch mein Band aus. Endlich! Alles (außer meiner Trainingshose) tut weh. Mir ist schwindelig, und ich würde mich jetzt gern übergeben. Aber das geht leider nicht – erstens sind zu viele Leute hier und zweitens ist ein kotzegetränkter Atem beim ersten Date wahrscheinlich nicht vorteilhaft.
    Auf dem Weg zur Umkleide fällt mir ein Stern vom Herzen, landet im Darm und verglüht.
    Neben meinen Klamotten und einer Horde nackter, pickeliger Männerärsche warten im Dressingroom jede Menge Fragen auf mich:
    Geht sie erst noch duschen?
    Soll ich duschen?
    Aber wie peinlich ist es, wenn nur ich dusche und sie warten muss?
    Sah sie wirklich gut aus?
    Muss ich sie gleich begrüßen? Und wenn, wie?
    Worüber soll ich mit ihr reden?
    Kommt sie überhaupt?
    Hoffentlich kennt sie sie nicht!
    Wie lange werde ich längstens warten, falls sie nicht kommt?
    Viele Fragen und nur eine Antwort: Ich bin aus der Übung und eine Wurst. Mir wird wieder schwindelig, und die Männerärsche machen mir Angst. Wie ferngesteuert von jemandem, der es gut mit mir meint, stopfe ich die sauberen Klamotten aus dem Schrank in meine Tasche und mache mich auf den Weg in das Café.
    Als ich komme, sitzt sie schon da. Sie liest die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ich bin erleichtert: Jogger-Lady kann lesen! Wenn man jemanden beim Sport kennenlernt, kann das genau wie bei jemanden, den man beim Feiern kennenlernt, im Tageslicht ziemlich fies enden. Beim Körperertüchtigen siehst du deine potenzielle Lebensabschnittspartnerin nur im Sportdress. Hast keine Ahnung, was sie noch so macht und was ihre Interessen sind. Beim Ausgehen siehst du die Leute nur im schlechten Licht, total hergestylt und mit Alkohol im Blick. Später kommt häufig das böse Erwachen. Ein Bekannter von mir musste mal mit einer Buffalo- und Bomberjacken-Prolette mit Schweißnote im Achselbereich und rechtsradikalen Tendenzen im Kopfvakuum essen gehen, weil sie am Abend vorher noch »total super« ausgesehen hatte.
    Jogger-Lady dagegen scheint wirklich toll zu sein. Sie packt die Zeitung in ihre Tasche (Sie hat sie also nicht nur gelesen, weil sie da rumlag, es ist ihre!) und winkt, als sie mich sieht. Ich mag winken. Zumindest ab heute. Winken ist süß und selbstbewusst.
    Sie trägt ihre blonden Haare jetzt offen. Ihr Gesicht erinnert mich an die gut gelaunten Mädchen von den Bund-Deutscher-Mädels-Propagandaplakaten aus meinem Schulgeschichtsbuch. Klar, hübsch, offen und fröhlich. Wie aus Marmor geschlagen. Eigentlich mag ich keine Muttermale, aber ihres ist wundervoll. Es ist direkt unter dem linken Auge. Ich bin begeistert!
    Ich sage »Hallo, na« und setze mich. »Na« bekomme ich als Antwort. Ich bin froh, dass keiner von uns den »Ich kann dich nicht hören …«-Witz zur Begrüßung wiederholt – anfänglich gute Spitzen werden

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