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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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fürchtete, was auch der Direktor zu fürchten schien, nämlich dass sie von ihrem Sohn sprechen würde oder es vielleicht die ganze Zeit schon tat, wenn sie über Daniel sprach.
    »Sag mir, wie er ist«, verlangte sie mit einer Aufgeregtheit, die ihre Lippen beben und auf ihren Wangen die Feuchtigkeit ihrer Haut sichtbar werden ließ. »Er ist doch dein Lieblingsschüler.«
    Es war nach dem Essen, bei dem sie den Wein wieder einmal so deutlich zurückgewiesen hatte, dass ich dachte, sie könnte ein Problem damit haben. Die leeren Teller standen noch auf dem Tisch, und der Direktor erhob sich lautlos und begann abzuräumen. Ich sah ihn hilfesuchend an, während er eine neue Flasche öffnete, und es vergingen ein paar Sekunden, bevor ich antwortete.
    »Ich würde sagen, er ist aufgeweckt, seinem Alter in manchen Dingen weit voraus, in anderen hinterher«, sagte ich, und es war nicht nur so dahergeredet, es war das, was ich dachte, auch wenn ich es mir noch nie richtig bewusstgemacht hatte. »Er lässt sich von mir Bücher empfehlen und liest sie, als wäre jedes einzelne eine Offenbarung.«
    »Angeblich geht er regelmäßig zur Schulmesse.«
    »Ja«, sagte ich. »Der Pfarrer ist selig, dass er ihn hat.«
    »Und er schreibt bestimmt gute Aufsätze.«
    »Ja«, sagte ich wieder. »Ein bisschen altklug vielleicht.«
    »Hat er ein Mädchen?«
    Es war auffallend, dass sie nicht »Freundin« sagte, und ich versuchte mir meine Irritation nicht anmerken zu lassen. Ihr Sohn war bei seinem Tod noch keine zwanzig gewesen, und das schien für mich in der Frage mitzuschwingen. Ich hätte ihr am liebsten gar nicht geantwortet, weil ich aus irgendeinem Grund plötzlich das Gefühl hatte, sie trete auch mir zu nahe, aber das wagte ich nicht.
    »Ich glaube, Mädchen interessieren ihn nicht«, sagte ich, ohne mich im geringsten darum zu kümmern, ob das missverständlich war. »Zumindest habe ich ihn noch mit keinem gesehen.«
    Es hätte so weitergehen können, wenn der Direktor ihr nicht ins Wort gefallen wäre. Die Hände auf die Lehne gelegt, stand er hinter ihrem Stuhl, als wäre er jederzeit zum Eingreifen bereit. Er sagte, er habe ihr das alles doch schon erzählt und er verstehe nicht, warum sie es von mir noch einmal hören wolle, geschweige denn, welche Bedeutung diese nichtigen Details für sie hätten. Dabei wirkte er nicht gereizt, aber dass sich unter seiner Ruhe etwas anderes verbarg, wurde mir spätestens klar, als sie noch einmal anfing.
    »Was ich sagen will, ist doch einzig und allein, ihr hättet die Artikelserie nicht stoppen sollen, nur weil irgendwelche Leute in Wien euch drohen, einen Skandal zu machen.«
    »Es sind nicht irgendwelche Leute in Wien«, sagte er. »Es ist die Israelitische Kultusgemeinde gewesen, und niemand hat mit einem Skandal gedroht.«
    »Um so weniger dürft ihr euch Vorschriften machen lassen.«
    »Es hat uns niemand Vorschriften gemacht, Liebste.«
    »Das hast du mir auch schon anders erzählt«, sagte sie. »Kaum geht es um Israel, haben alle die Hosen voll und sagen aus Angst, etwas Falsches zu sagen, auch nichts Richtiges mehr.«
    »Ach, Liebste, glaubst du wirklich, dass es so einfach ist?«
    »Das habe ich nicht behauptet«, sagte sie, und ihre Bestimmtheit schien um so stärker, je mehr er sich auf dieses Spiel nachsichtigen Widerspruchs verlegte, mit dem er sie ins Leere laufen ließ. »Und hör auf, mich Liebste zu nennen.«
    Sie redeten offensichtlich nicht zum ersten Mal über dieses Thema, und ich konnte spüren, wie unbehaglich sich der Direktor fühlte, während seine Frau sich spöttisch ereiferte, welche Gefahr für den Weltfrieden von einem Sechzehnjährigen ausgehen könne.
    »Was er schreibt, mag ein bisschen verrannt sein, aber vielleicht schadet das nicht bei den Einseitigkeiten, die man sonst in der Berichterstattung über das Land zu hören bekommt.«
    Er hatte aufgehört, sie zu korrigieren, und auch ich sagte nichts. Weder er noch sie hatte mit mir jemals darüber geredet, wie ihr Sohn gestorben war, und ich kannte nur die Geschichte, die in der Schule erzählt wurde. Wenn sie stimmte, waren es Drogen gewesen, und seither, hieß es, verzweifle sie an der Realität und sei empfänglich für jede Art von Sektierertum, für jeden noch so löchrigen Beweis, dass die Dinge nicht so seien, wie sie auf den ersten Blick erschienen. Das war mir bei meinen Besuchen noch nie aufgefallen, ich hatte sie immer als sanfte, in sich gekehrte Frau wahrgenommen, die sich der

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