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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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allen Ernstes, er werde einen Roman über unseren Sommer schreiben und damit weltberühmt und reich werden und der Schwarm aller Frauen.
    Ich hatte Barbara in Istanbul kennengelernt, Jahre davor, als sie noch studierte, oder genau genommen nicht in Istanbul, sondern auf einer Reise von Istanbul nach Adana, ganz im Südosten der Türkei. Sie war in Haydarpaşa mit ihrer Freundin den Bahnsteig entlanggelaufen und im letzten Augenblick eingestiegen, zwei mit ihren Rucksäcken bis über die Köpfe bepackte junge Frauen, die sich mir gegenübersetzten, als der Zug schon aus dem Bahnhof hinausglitt, und sich auffallend zurückgenommen auf deutsch zu unterhalten begannen. Sie waren aus Wien, und wir hatten uns das Abteil mit einer türkischen Familie geteilt, Mutter, Vater und zwei Kinder, eine Nacht und einen Tag in der berühmten Bagdad-Bahn. Wir hatten uns flüsternd weiter unterhalten, nachdem die anderen eingeschlafen waren, und am Ende der Fahrt hatte ich Barbaras Telefonnummer in der Hand, die sie mir mit einem Blick überreichte, als wäre sie nur für den Notfall. Es dauerte, bis etwas zwischen uns war, wie man so sagt, eine kleine Ewigkeit, in der wir uns oft monatelang nicht sahen und dann wieder drei oder vier Wochenenden hintereinander, aber meine Sehnsucht richtete sich immer auf das Davor, als nichts war, um in dem Sprachgebrauch zu bleiben. Ich hatte das Bild von ihr im Kopf, das ich bei diesem ersten Treffen gewonnen hatte, ihre unbedingte Art, ein Gespräch zu führen, ihr Ausweichen, wenn es ihr zu persönlich wurde, die Klarheit ihres Denkens, die sich in der Klarheit ihrer Bewegungen widerspiegelte, der Klarheit ihres Körpers, wie ich viel später dachte, als sie sich in einem Wiener Hotelzimmer umstandslos ihr Kleid über den Kopf zog und zum ersten Mal nackt vor mir stand.
    Was Daniel betrifft, bin ich überzeugt, dass sie ihn von Anfang an nicht mochte, und das hatte wohl mehr mit ihrer Arbeit zu tun als damit, dass ich ihre Frage, in welcher Beziehung ich zu ihm stünde, mit der Gegenfrage beantwortet habe, wie sie das meine. Ich reagierte empfindlich, weil sie nicht die erste war, die eine Erklärung von mir wollte, aber wie gesagt, ich glaube nicht, dass das der Grund für ihre Reserviertheit ihm gegenüber war. Es begann unmittelbar nachdem ich sie einander vorgestellt hatte, sie machte zu der Zeit schon als Anwältin Karriere, verteidigte vor allem jugendliche Straftäter, und vielleicht tat ich ihr unrecht, aber ich wurde den Eindruck nicht los, sie komme von der ersten Sekunde an nicht umhin, in ihm einen potentiellen Klienten zu sehen. Mochte das Klarsicht oder eine berufsspezifische Blindheit sein, mir entging nicht, dass sie sich an den Wochenenden, an denen sie bei mir zu Besuch war, bereits durch seine Anwesenheit in ihrer ganzen Existenz angegriffen fühlte. Sie vermied es, mit ihm allein zu sein, und warf ihm vor, das nicht zu akzeptieren und absichtlich auf sie zuzusteuern, wenn ich nicht dabei war. Ich wusste nicht, was davon stimmte und was bloß von ihrer Beengung kam, mit ihm auf so kleinem Raum leben zu müssen. Wenn ich ihr glauben wollte, brauchte sie nur in die Stadt zu gehen, und er tauchte, kaum dass sie aus dem Haus war, auf der anderen Straßenseite auf und folgte ihr, was um so auffälliger schien, als er seinen Blick immer abgewandt hatte, wenn sie zu ihm hinüberschaute. Sie holte das Fahrrad aus dem Keller, und er trat ihr wie zufällig auf der Treppe entgegen. Sie ging in den Wald laufen und sah ihn in jedem Baum sitzen, und ich erinnere mich natürlich genau an ihre unterdrückte Panik, als sie mich eines Nachts im Morgengrauen weckte und sagte, sie sei sicher, er sei gerade in unserem Zimmer gewesen. Ich setzte mich auf und lauschte, und obwohl ich in ihrem Gesicht nichts erkennen konnte, spürte ich die Anspannung und ließ mich von ihr drängen, zu ihm hinüberzugehen.
    Unmittelbar darauf hatten wir dann auch dieses Gespräch, nach dem tatsächlich nichts mehr war wie davor. Das sagt sich so leicht, aber als ich zu ihr zurückkam und sah, dass sie aufrecht im Bett saß, wusste ich gleich, es würde um etwas Grundsätzliches gehen. Kaum hatte ich gesagt, sie müsse sich getäuscht haben, fuhr sie mich an. Ich hatte sie davor nie in einem solchen Zustand gesehen, aufgelöst und gleichzeitig gefasst, und ich gebe zu, dass ich die Sache lange unterschätzt habe. Denn ich hatte mich darauf verlassen, dass sie schnell erkannte, wie harmlos er war, ein verwirrter junger

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