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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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Mann, der ohne Zweifel wieder Fuß fassen würde, wenn man ihm Zeit ließ, aber das Gegenteil war der Fall, und sie beharrte darauf, dass es sich nicht um ein Spiel handle und sie den Eindruck habe, er wolle ausloten, wie weit er gehen könne und was sie hinzunehmen bereit sei. Er war schwer einschätzbar in dieser Phase, da hatte sie recht, und das begann schon mit seinem Äußeren, tauchte er doch einmal abgerissen und zerknittert bei mir auf, als hätte er die letzten Nächte im Freien verbracht, und erschien wenige Wochen später herausgeputzt, auch wenn ihm Hemd und Hose zu groß waren, der Pullover zu klein und er dazu vielleicht als Extravaganz einen Schlapphut oder seine Lieblingsmütze mit Ohrenklappen trug. Zusammen mit der Marotte, von einem Augenblick auf den anderen aus dem Alten Testament zu zitieren oder sich zu bekreuzigen, wie um sich damit selbst zur Vernunft zu rufen, war das für sie Grund genug, sich Sorgen zu machen.
    »Mir ist immer noch nicht klar, warum du diesen Spinner überhaupt ins Haus geholt hast«, sagte sie. »Für mich ist es nur pathetisch, dass du so an ihm hängst.«
    Ich hatte ihr schon mehrmals erklärt, dass ich ihn in seiner Situation nicht im Stich lassen könne, und erklärte es noch einmal.
    »Er verlässt sich auf mich. Als ob du nicht genau wüsstest, warum er hier ist. Ich kann ihn nicht einfach vor die Tür setzen.«
    Ich hörte selbst das Flehende in meiner Stimme, das ich nicht beabsichtigt hatte, hörte, wie wenig überzeugend es klang, und hörte, wie sie lachte, als ich sie bat, mir noch ein bisschen Zeit zu geben.
    »Du hältst ihn dir als dein Geschöpf«, sagte sie. »Die Geschichte mit den Büchern, die du ihm zu lesen gibst, ist doch krank.«
    Sie schien zu zögern, sprach dann aber vehement weiter.
    »Was ist es wirklich, das dich an ihm fasziniert?«
    Es waren die immer gleichen Vorwürfe, verbunden mit einer ostentativen Müdigkeit, sich überhaupt noch einmal mit dem Thema beschäftigen zu müssen, und ich hätte sagen können, was ich wollte, ich wäre nicht mehr zu ihr vorgedrungen. Sie hatte das Fenster gekippt, so dass von draußen der Regen zu hören war, ein gleichmäßiges Rauschen, das am Abend eingesetzt hatte, und jetzt war es früher Morgen, und es regnete immer noch oder hatte wieder angefangen. Die Lampe auf ihrem Nachttisch war an, und ihr Schein verbreitete ein weiches, milchiges Licht. Ich konnte ihr Gesicht deutlich sehen, und es war nicht Feindseligkeit, es war nicht Ausdruckslosigkeit, es war das Gesicht einer Fremden.
    »Ich möchte gern wissen, wofür du glaubst Abbitte leisten zu müssen«, sagte sie. »Seit Monaten versprichst du mir, ein paar Tage noch, und es wird alles anders, aber du willst gar nicht, dass sich etwas ändert. Du willst, dass es genauso bleibt, wie es ist. Ich sage dir noch einmal, das ist pathetisch.«
    Ich hatte nichts mehr gefürchtet als dieses Gespräch. Auf dem Boden neben dem Bett kauernd, ließ ich den ersten Sturm über mich ergehen, und meine einzige Gegenwehr war, dass ich versuchte, nach ihrer Hand zu fassen, obwohl ich spürte, wie sie von mir abrückte. Es war noch eine Stunde bis zum endgültigen Tagesanbruch, und ich verbiss mich in den Gedanken, dass ich so lange durchhalten müsste und dann von allem erlöst wäre, weil es sich als böser Spuk herausstellen würde.
    »Ich habe dir gesagt, er ist mein bester Schüler gewesen. Soll ich genau dann, wenn er in Schwierigkeiten ist, so tun, als hätte ich das vergessen? Du musst doch verstehen, dass ich mich für ihn verantwortlich fühle.«
    »Ach was«, sagte sie. »Nichts als Sentimentalitäten.«
    Ihre Stimme klang auf einmal resigniert.
    »Die Wahrheit ist, dass du wahrscheinlich auch noch stolz darauf bist, wenn er den ganzen Tag in einem abgedunkelten Zimmer liegt und fernsieht oder die heiligen Bücher liest, die du ihm gibst und die ihm die Erleuchtung bringen sollen.«
    Es war nicht lange her, dass sie den Bericht von seiner Reise nach Israel gelesen hatte, und ich war so unvorsichtig gewesen, ihr zu erzählen, dass er gerade an einem Roman arbeite, und dagegen polemisierte sie jetzt. Sie hatte sich angewöhnt, ihn den Herrn Künstler zu nennen, und es war die alte Litanei, ihm werde alles erlaubt, weil er natürlich ein Auserwählter sei, weil er das Recht habe, unausstehlich zu sein, und sich über die Regeln, die für Normalsterbliche gelten, hinwegsetzen dürfe. Ich kannte das und hatte es nie richtig ernst genommen, weil ich mir nicht

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