Eine Ahnung vom Anfang
vorstellen konnte, dass sie für diese Art Ressentiment zugänglich war, wurde nun aber eines anderen belehrt. Sie klagte zum wiederholten Mal, er greife sich immer zwischen die Beine, wenn sie ihm auf dem Gang begegne, sagte, dass er die Toilettentür unversperrt lasse und sie sich anschauen müsse, wie er in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit auf dem Thron saß, wenn sie nicht achtgab, wo im Haus er sich gerade aufhielt.
»Aber warum soll ich mich aufregen? Er ist ein Herr Künstler und darf so etwas. Ihm dient alles zur Inspiration, und wer bin ich, ihm das zu verwehren?«
Sie war noch weiter von mir abgerückt und fiel beinahe auf der anderen Seite aus dem Bett. Ich hatte aufgehört, sie zu berühren, aber was ich auch tat, ich wusste, es wäre falsch und würde bei ihr immer nur dieselbe Reaktion auslösen und sie noch schneller von mir wegbringen. Von draußen war das Geräusch eines sich nähernden Autos zu hören, und ich sah, wie sie lauschte, und hoffte, der Einbruch des Alltags würde ihr die Absurdität bewusstmachen, aber kaum hatte sich der Lärm des Motors in der Ferne verloren, fing sie noch einmal an.
»Das hast du jetzt von deinen Sprüchen. Man hat als Lehrer versagt, wenn man sich jahrelang abmüht, und am Ende kommen nur nützliche Glieder der Gesellschaft heraus. Du müsstest dich einmal reden hören.«
»Das soll ich gesagt haben?«
»Tu nicht so, als wüsstest du es nicht mehr«, sagte sie. »Willst du noch eine Kostprobe von deinen Weisheiten?«
Ich hätte gern verzichtet, aber sie musste sie loswerden.
»Alles besser als ein normales Leben, alles besser als einer von den Kaspern zu werden, die den ganzen Schwachsinn am Laufen halten, einer von den Krawattenträgern, die nicht einmal merken, dass sie sich die Schlinge, an der sie ersticken, selbst um den Hals gelegt haben.«
Es klang furchtbar, und auch wenn ich nicht bestreiten konnte, dass ich das wirklich gesagt hatte, wehrte ich mich gegen das Bild eines wild gewordenen Studienrates, das ich damit abgab.
»Lauter Klischees«, sagte ich. »Verschon mich damit.«
Ich habe noch in den Ohren, wie sie lachte.
»Es sind deine Worte, und du hättest sie nicht verächtlicher aussprechen können. Wahrscheinlich muss man unkündbar sein und Anspruch auf ein dreizehntes und vierzehntes Monatsgehalt haben, damit man solche Reden schwingen kann und nicht merkt, wie verlogen das ist. Ich würde es gern romantisch nennen, aber es ist einfach nur pathetisch und blöd, und ich weiß nicht, mit welchem Recht du dich über alle erhebst.«
»Aber das tu’ ich doch nicht.«
»Und ob«, sagte sie. »Schau dich nur an. Woher nimmst du bloß die Gewissheit, etwas Besseres zu sein? Versuch doch einmal, deine Theorien an dir selbst auszuprobieren.«
Sie saß jetzt von mir abgewandt auf dem Bettrand, ihre Füße auf dem Boden. Sie hatte sich vorgebeugt, um sich Schuhe anzuziehen, und das Haar fiel ihr links und rechts nach vorn über die Schultern. Dabei sprach sie in einem fort weiter, und es klang, als würde sie nur für sich selbst noch einmal durchgehen, was schon längst keiner Worte mehr bedurfte.
»Immerhin hast du nach all den Jahren der Mühsal mit ihm endlich den Wunschkandidaten, der so sehr aus der Art schlägt, dass du die größten Hoffnungen in ihn setzen kannst«, sagte sie. »Bei einem Herrn Künstler von seinem Kaliber braucht niemand zu befürchten, dass er ein nützliches Glied der Gesellschaft wird.«
Dann verstieg sie sich zu der Aussage, sie würde sich allemal lieber mit den schlimmsten Delinquenten, die sie vor Gericht zu vertreten habe, in einen Raum einschließen lassen, als mit Daniel auch nur einen Abend unter Leuten zu verbringen, und als ich schon dachte, es sei ausgestanden, kam das Verdikt, das mir seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist.
»Vermutlich dauert es keine drei Jahre, und er hat mit der Polizei zu tun, und wie ich dich einschätze, ist es genau das, was du dir im Grunde deines Herzens wünschst.«
Ja, es war das gefürchtete Gespräch. Zwar war es nicht das erste Mal, dass sie damit begann, aber sie war nach einem anfänglichen Ausrutscher nie mehr so nahe daran gewesen, unsere Vereinbarung zu brechen und nicht nur andeutungsweise, wie sie es natürlich tat, sondern direkt von Robert zu sprechen. Ich hatte sie gebeten, ihn aus dem Spiel zu lassen, als sie mich eines Tages gefragt hatte, warum ich nicht aus der Stadt wegziehe, warum ich nicht zu ihr nach Wien käme und lieber in diesem Nest vor
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