Eine Ahnung vom Anfang

aber ich nehme an, dazu brauchte sie mich nicht als Modell, mochte es noch so sehr nach unserem letzten Streit klingen. Ich ließ ihn reden, obwohl es mich schmerzte und ich wusste, dass es auch gegen mich gerichtet war, als er sie imitierte und mit ihrer Stimme die klassischen Tugenden für abgewirtschaftet erklärte, mit ihrer Stimme sagte, es sei ein Problem, wenn man jedes abweichende Verhalten fördere und darob aus den Augen verliere, worum es eigentlich geht. Dann schlug er einen hohen Ton an, sagte »Stolz«, sagte »Anstand«, sagte »Ehrlichkeit«, und nach einer langen Pause jedesmal »Fehlanzeige«, und komplettierte es mit einem meckernden Lachen.
    Damals schon hatte ich sie gleich am Morgen darauf kontaktieren wollen, aber es war auch da nur ein Impuls gewesen, und bei der Vorstellung, dann wirklich mit ihr zu sprechen, hatte ich es mir gleich wieder aus dem Kopf geschlagen. Die unerwartete Nähe im Fernsehen hatte sie für mich endgültig entrückt, und die Zeit, die seither vergangen war, tat das Ihre, dass ein Anruf jetzt nur um so ungewöhlicher erschienen wäre. Ich müsste ihr sagen, ich meldete mich wegen Daniel, und mir dann Fragen anhören, ob er in Schwierigkeiten sei und ob ich noch wisse, was sie mir für ihn prophezeit habe, wenn ich ihr von meinen Befürchtungen erzählte, und allein das war mir ein Greuel. Vielleicht würde sie mir vorhalten, ich hätte mich damals für ihn entschieden und müsse nun selbst sehen, wo ich bliebe, und es würde nichts helfen, wenn ich ihr widerspräche, wenn ich sie daran erinnerte, dass sie ohne Abschied aus dem Haus gegangen war und ich mich gar nicht entscheiden konnte, weil ich noch geschlafen hatte.
    Ich gab mir an diesem Morgen besondere Mühe mit der Kleidung, wählte einen der beiden Anzüge, die ich mir in Istanbul hatte machen lassen und die Barbara mit ihrem Lieblingswort als pathetisch bezeichnete. Sie hatte mich gebeten, sie in ihrer Gegenwart nicht zu tragen, weil sie nicht beurteilen könne, ob ich mich in dem altmodischen Aufzug nur zu ernst nahm oder im Gegenteil aus unerfindlichen Gründen versuchte, mich zu einer Witzfigur zu machen. Ich hatte gesagt, beides, und war dann nicht weiter darauf eingegangen, aber jetzt erinnerte ich mich wieder und fand, dass es eine komfortable Haltung wäre, wenn ich sie nur durchhielt.
    Es war kurz vor Weihnachten im ersten Jahr gewesen, als ich mich entschlossen hatte, mein Äußeres zu ändern, und sowenig ich bis dahin ausgegangen war, hatte ich meinen Radius doch erweitert, rund um meine Wohnung in Cihangir und die Österreichische Schule in Galata, war einmal sogar am Goldenen Horn entlang nach Eyüp und dann noch darüber hinaus gegangen, bis ich in die Nacht geriet. Ich hatte mich mein ganzes Erwachsenenleben lang bestenfalls nachlässig angezogen und hätte wohl kaum einen weiteren Gedanken daran verschwendet, wenn mich nicht ein Bildband mit melancholischen Stadtaufnahmen aus der Jahrhundertwende zu dieser modischen Extravaganz verleitet hätte. Dabei gaben weniger die dort abgebildeten Männer den Ausschlag, alle in entsprechender Garderobe, als die zurückliegende Zeit und die nicht mehr existierenden Orte. Auf jeden Fall hatte ich noch am selben Tag einen Schneider in der Nähe des Taksim-Platzes aufgesucht und einen leichten Sommeranzug und einen Dreiteiler für den Winter in Auftrag gegeben, als bräuchte es nicht mehr, um wie eine von den verlorenen Gestalten durch die Straßen zu flanieren, die obligatorische Zigarette im Mundwinkel an einem Laternenpfahl zu lehnen oder Seite an Seite mit einer Frau in eine Zukunft zu gehen, die längst schon Vergangenheit war. Ich erinnere mich an die Dunkelheit im hinteren Teil des Geschäfts, mit der die Verwandlung bereits begann, eine Dunkelheit, in der ein paar ausrangierte Puppen dicht nebeneinanderstanden und auf einem Tisch unter einer nackten Glühbirne Schnitte verstaubten, und aus dieser Dunkelheit schien auch der alterslose Herr zu kommen, der Maß nahm. Er hatte nichts Geschäftstüchtiges, eher etwas unaufhaltsam Zwingendes, und versuchte, jede Berührung zu vermeiden, wischte wie beschwörend und mit ausladenden Bewegungen im Mindestabstand die Umrisse meines Körpers entlang, bevor er das Zentimeterband anlegte. Er sprach nur das Notwendigste, nachdem ich mich verständlich gemacht und den Stoff ausgewählt hatte, und als ich zehn Tage später wiederkam und den Dreiteiler gleich anbehielt, nickte er beifällig, als würde er den Grund