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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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kennen, warum ich mich bei ihm einkleidete, und wollte mir anvertrauen, dass ich nicht der erste war und es in Wahrheit eine ganze Legion von Männern gab, die er nicht nur mit neuen Jacken und neuen Hosen, sondern mit einem neuen Leben ausgestattet hatte. Seither habe ich die Anzüge so viel getragen, dass sie beide an den Knien und an den Ellbogen ausgebeult sind und glänzende Stellen aufweisen, aber sie haben ihre Funktion nicht verloren, im Gegenteil, sie erfüllen sie nur um so besser, je älter und fadenscheiniger sie werden. Denn sie versetzen mich augenblicklich in eine Parallelwelt und machen mich auf eine Weise sichtbar, die manchmal schon der Unsichtbarkeit gleichkommt, an die Kinder glauben, wenn sie sich die Hände vors Gesicht schlagen.

6
    Der Direktor zerstörte meine Illusionen schon bei meinem Eintreten, weil er sofort von Daniel sprach und sagte, er habe nicht gedacht, dass wir uns in diesem Leben noch einmal über den Unglücksvogel würden unterhalten müssen, und allein dass er das Wort von neuem verwendete, rief mir die Situation zwölf Jahre davor in Erinnerung und die tagelange Aufregung über den Bericht aus Israel. Damals hatte er mir die Verantwortung für ihn regelrecht aufgezwungen. Fehlte nur, dass er wieder von meinem engen Verhältnis zu ihm anfing, aber das tat er nun doch nicht. Er saß hinter seinem Schreibtisch und hatte sich nicht die Mühe gemacht, aufzustehen und mich zu begrüßen. Statt dessen fuhr er fort, in einer Aktenmappe Dokumente zu unterschreiben, und es hatte etwas demonstrativ Nachlässiges, als er mit vorgerecktem Kinn auf den Stuhl ihm gegenüber deutete.
    »Offenbar gibt es Leute, die ihn mit der Bombendrohung in Verbindung bringen«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Mich würde interessieren, was du davon hältst.«
    Er war jetzt zwei- oder dreiundsechzig, sein Haar voll und schneeweiß, an guten Tagen immer noch eine imposante Erscheinung, wie man so sagt, während an schlechteren die Müdigkeit einen Graufilm über sein Gesicht legte, als würde unmerklich Staub aus den Furchen an seinen Mundwinkeln rieseln. Es galt als offenes Geheimnis, dass Frau Pfeifer, die neue Biologielehrerin, sein Jungbrunnen war und es in der Hand hatte, ihn einmal so, einmal so wirken zu lassen. Seine Frau war in den vergangenen beiden Jahren zweimal mehrere Wochen lang im Trockendock gewesen, wie ihre Aufenthalte im Sanatorium gehässig genannt wurden, und bei der letzten Einladung zu ihnen nach Hause hatte ich den Eindruck, ihre Fürsorglichkeit habe sich ein wenig überlebt und sie hätten beide genug mit sich selbst zu tun.
    »Wie lange bist du eigentlich schon an der Schule?«
    Überrascht von seiner Einleitung, hielt ich es zuerst für ein Missverständnis, als er seine Füllfeder beiseite legte und mich mit einem forschenden Blick ansah. Ich war gewöhnt, dass er auf Fragen nicht unbedingt eine Antwort erwartete, rechnete jetzt aber brav nach und sagte es ihm, und er erwiderte, das sei eine lange Zeit und da hätte ich die ersten Krisen gewiss längst hinter mir. Es war nur vorgeblich unkonzentriertes Gerede, und ich musste mich hüten, darauf hereinzufallen, als er dann ins Allgemeine auswich, er kenne keinen einzigen Lehrer, der nicht irgendwann sein Tun in Zweifel ziehe, aber das Entscheidende sei, wie man damit umgehe, das Entscheidende sei, ob man weitermache, obwohl einem plötzlich alles als sinnlos erscheine, oder ob man den Krempel einfach hinwerfe und sein Heil in der Flucht suche.
    »Ich will dir nicht zu nahe treten, aber wenn du eine Auszeit brauchst, musst du mir nur ein Zeichen geben«, sagte er. »Vielleicht täte dir noch ein Aufenthalt in Istanbul gut oder wenigstens ein Semester ohne Unterrichtsverpflichtung, ein Jahr in der Administration, um Abstand zu gewinnen.«
    Er nahm die Uhr vom Handgelenk und legte sie vor sich auf den Schreibtisch, und sein Blick war jetzt dieser typische Lehrerblick, gegen den keiner von uns gefeit ist, hatte etwas Wohlwollendes und gleichzeitig Strafendes.
    »Du weißt, ich bin immer dein Fürsprecher gewesen.«
    Es war ohne Zweifel ein Hinweis auf meinen Dauerstreit mit dem Elternverein, der sich an meinen Lektüreempfehlungen entzündete und erst vor ein paar Monaten wegen ein paar Sätzen aufgeflammt war, die ich im Unterricht gesagt hatte, und ich konnte mir vorstellen, worauf er anspielte. Ich hatte in einer Stunde gesagt, mit der Demokratie sei es so eine Sache, weil darin nur der Vorrang des Körperlichen vor dem

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