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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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überrascht gewesen, wie wenig er auf den ersten Blick mit dem ursprünglichen Bericht zu tun zu haben schien. Er schrieb auch darin nichts über das Massaker von Hebron und die beiden Selbstmordattentate in dessen Gefolge, aber erstaunlicher war, dass im Mittelpunkt auch nicht die üblichen Stationen auf dem Jesuspfad standen, die er mit der Pilgergruppe abgeklappert hatte. Natürlich waren sie den Kreuzweg in Jerusalem gegangen, natürlich waren sie in Bethlehem und Nazareth gewesen, natürlich in Tiberias und in den biblischen Orten am See Genezareth, aber das streifte er nur, handelte es ab wie eine Pflichtübung, obwohl zwischen den Zeilen zu merken war, wie sehr ihn das beschäftigte. Denn in Wirklichkeit war es eine einzige Feier der Wüste, für die er leuchtende Worte fand, wenn er von ihrer Kargheit und Klarheit schwärmte, und ich erinnerte mich sofort wieder an einzelne Szenen aus dem Negev, die mir nach all den Jahren noch gegenwärtig waren.
    »Es ist wunderbar, wie er das Abendlicht am Rand von Beer Sheva sichtbar macht oder den Sonnenaufgang auf dem Weg nach Massada«, sagte ich. »Man kann buchstäblich an jedem Satz sehen, wie hingerissen er war.«
    Der Direktor nickte, schien aber alles andere als überzeugt. Er stützte seine Ellbogen auf den Schreibtisch und beugte sich zu mir vor, als wollte er mich genauer in Augenschein nehmen. Ich sah die feinen Fältchen unter seinen Tränensäcken, die in dauernder Bewegung zu sein schienen, und der schwache Geruch eines Rasierwassers stieg mir in die Nase, nicht unangenehm, aber auch nicht angenehm in dieser plötzlichen Anbrandung von Intimität.
    »Solange er bei den Beschreibungen bleibt, stimme ich zu«, sagte er. »Was mich stört, ist der metaphysische Schleim, mit dem er alles überzieht.«
    Ich fragte ihn, was er damit meine, und er sagte, diese religiöse Wüstenromantik, die sich außerhalb von psychiatrischen Anstalten längst überlebt habe, die Wüste als der gottverlassenste Ort auf der Welt, an dem ein Suchender gleichzeitig Gott am nächsten sei, mit nichts außer sich zwischen Himmel und Erde. Schön und gut, er verstehe ja, in der Wüste habe Moses die Tafel mit den Zehn Geboten erhalten, in der Wüste habe Jesus mit dem Satan gekämpft und auch Mohammed habe seine Schlüsselerlebnisse ohne Zweifel in der Wüste gehabt, aber als Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts könne er verlangen, damit nur in homöopathischen Dosen oder am besten überhaupt nicht behelligt zu werden. Dann sagte er, interessanter seien da schon die erfolglosen Religionsgründer, und wenn man ein wirkliches Bild von der Wüste bekommen wolle, eine wirkliche Vorstellung, welcher Ort des Wünschens und Glaubens und welcher Ort des Aberglaubens und Wahns die Wüste über die Jahrhunderte gewesen sei, dann müsse man sich an sie halten, an die Hunderte oder vielleicht sogar Tausende von Erleuchteten, die ihr Leben hinter sich gelassen hatten, um in die Wüste zu gehen, deren Spuren zum Glück aber im Sand oder im Nichts der Geschichte verliefen.
    Natürlich wusste ich, dass ich ihn reden lassen musste. Es war seine Art, Anlauf zu nehmen, und mit den Jahren schien dieses Bedürfnis, ein Thema möglichst weiträumig zu umreißen, bevor er zum Punkt kam, nur noch größer zu werden. Ich hatte Gespräche mit ihm, in denen das Wesentliche in zwei Minuten verhandelt wurde und er die Zeit davor und danach nützte, über nichts weniger als die Lage des Landes oder den Zustand der Welt zu dozieren. Er hatte sich lange gegen das Internet gewehrt, lange gegen Computer überhaupt, aber mittlerweile war mein Eindruck, er bereite sich zwanghaft auf jeden Termin vor, indem er die wichtigsten Stichworte mit zwei Fingern in die Tastatur tippte, und füttere einen dann verlässlich mit dem ab, was er in einem ersten Schwall auf den Bildschirm bekam.
    Im übrigen glaube ich, dass er Daniel unrecht tat, wenn er dessen Rolle auf die eines naiv gottgläubigen Bibelschülers reduzierte, gab es in diesem Folgeartikel doch genug Stellen, die eine falsche Erhabenheit gar nicht erst aufkommen ließen. Dazu genügte ein Schwenk auf die Reisegruppe mit ihren irdischen Wehwehchen, und an den Tagen, die sie in Galiläa verbrachten, sorgte die israelische Luftwaffe dafür, dass es weltlich blieb. Denn zu fast jeder Stunde waren Kampfjets in der Luft, die über dem Golan, an der Grenze zu Syrien, Patrouille flogen, und noch die andächtigste Stille konnte im selben Augenblick von ihrem Lärm

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