Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
Vom Netzwerk:
Geistigen zur Geltung komme, weil es bei Wahlen ja nicht um die Anzahl der Köpfe gehe, und schon gar nicht um deren Qualität, sondern um die Anzahl der Fäuste. Und ich hatte gesagt, die Mehrheit habe fast immer unrecht, man brauche sich nur umzuschauen und finde überall Beispiele dafür, und dass sie sich trotzdem durchsetze, habe weniger mit dem Sieg der Vernunft zu tun als mit der Androhung von Gewalt, sei wie bei jeder Schulhofschlägerei bloß der Tatsache geschuldet, dass die kleinere Gruppe besser nachgibt, wenn sie nicht von der größeren verdroschen werden will.
    »Gibt es neue Beschwerden?«
    Um ihn nicht ansehen zu müssen, schaute ich auf die Ordner in dem Regal neben dem Schreibtisch, die mit Jahreszahlen beschriftet waren und von denen es hieß, sie enthielten seine tagtäglichen Aufzeichnungen. Es ging das Gerücht, dass darin nicht nur jede Unterhaltung akribisch vermerkt sei, nicht nur, wer was gesagt habe, samt einer Beurteilung des Ganzen, sondern auch Banalitäten, belanglose Aufzeichnungen über das Wetter oder was er an dem oder jenem Tag gegessen habe und ob er auf der Toilette gewesen sei oder nicht. Bei dem Gedanken daran wandte ich den Blick ab und richtete ihn auf das gerahmte Foto, das er vor sich stehen hatte und das ich nur von hinten sah, von dem ich aber wusste, dass es ihn mit seiner Frau und seinem Sohn zeigte. Daneben stand eine kleine Vase mit Blumen, und ich musste zweimal hinschauen, bis ich keinen Zweifel mehr hatte, dass sie nicht aus Plastik waren.
    »Ist es wieder der Elternverein?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Du hast in einer Klasse über die Bombendrohung gesprochen.«
    Er hatte überall seine Zuträger und Spitzel, und ich wunderte mich nicht im geringsten, dass ihm das bereits zu Ohren gekommen war.
    »Ich werde dir nicht sagen, was du tun und lassen sollst, aber ich frage mich schon, warum du gleich Verständnis zeigen musst. Ein bisschen Zurückhaltung würde nicht schaden. Ich kann jedenfalls nicht darüber hinwegsehen, wenn du vor Vierzehnjährigen die These vertrittst, es sei manchmal gerade die Sehnsucht nach Unschuld und Reinheit, die einen dazu bringe, Schuld auf sich zu nehmen.«
    Genau das hatte ich gesagt, und genau das dachte ich, aber er hatte natürlich recht, die Schule war nicht unbedingt der angemessene Ort für derartige Überlegungen.
    »Abgesehen davon, dass du solche Erlösungsphantasien der Kirche überlassen solltest, kannst du damit aus jedem Querulanten einen Heiligen machen«, sagte er. »Wenn du es darauf abgesehen hast, scheint es dir immerhin gelungen zu sein.«
    Er schwieg eine Weile, und dann wollte er wissen, wann ich Daniel zum letzten Mal gesehen hätte, und ich sagte ihm, was ich auch Agata gesagt hatte.
    »Bei der Hochzeit von Judith?«
    Es war offensichtlich, dass er mir nicht glaubte.
    »Das ist schon eine ganze Weile her«, sagte er und sah mir so lange in die Augen, bis ich nicht anders konnte, als den Blick abzuwenden. »Bist du sicher, dass es da gewesen ist?«
    Ich sagte ja, und er erwiderte, er vertraue darauf, dass ich ihm nichts verschwieg, und während ich überlegte, von wem er etwas über Daniels späteren Besuch bei mir hatte erfahren können, wurde mir mit einem Mal klar, dass unser Gespräch auf der Kippe stand, den Charakter eines Verhörs anzunehmen. Er hatte angefangen, mit dem Zeigefinger unsichtbare kleine Kästchen auf den Schreibtisch zu zeichnen, die er dann mit dem Ärmel wieder wegwischte, als würde er sie tatsächlich sehen, und ich hätte ihn am liebsten gebeten, damit aufzuhören. Schließlich wandte er sich um, nahm eine schwarze Flügelmappe von dem Pult an seiner Seite und legte sie vor mich hin. Als ich zögerte, schlug er sie auf, und dann brauchte ich nur einen Augenblick, um zu erkennen, dass es der erste der drei Folgeartikel zu dem Bericht war, den Daniel von seiner Reise nach Israel geschrieben hatte.
    »Ich habe ihn jetzt erst in die Hand bekommen«, sagte er mit allzu gewollter Beiläufigkeit. »Für dich dürfte er nichts Neues sein.«
    Es gab keinen Zweifel, dass er sich informiert hatte und meine Bestätigung für ihn nur eine Formsache war, weshalb er gar nicht erst darauf zu warten brauchte und einfach darüber hinwegreden konnte.
    »Bis vor wenigen Tagen habe ich nicht gewusst, dass er überhaupt existiert, und außerdem hat mich das auch nicht interessiert, nachdem die Affäre damals ausgestanden war.«
    Ich hatte mir den Artikel seinerzeit von Daniel geben lassen und war

Weitere Kostenlose Bücher