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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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nicht so ernst zu nehmen, und erntete einen Blick, als hätte ich ihm unterstellt, selbst im Denken eines Ministranten steckengeblieben zu sein. Ich kannte dieses Hin und Her bei vielen, die fromm aufgewachsen waren, ein Bedürfnis, sich davon zu distanzieren, das mit der Bereitschaft wechselte, dann doch wieder etwas zu verteidigen, von dem man nicht wusste, was genau es war, es sei denn das immer nur Richtige der eigenen Kindheit, und damit erklärte ich mir seine Empörung. Er sagte, ich solle das getrost seine Sorge sein lassen, und mir fiel erst jetzt auf, dass seine traurig hängenden Wangen sich beim Sprechen mit einer geringen Verzögerung zu bewegen schienen, als wären sie nicht richtig synchronisiert worden.
    Vom Hof hinter seinem Rücken war plötzlich Geschrei zu hören, aber er stand nicht auf wie sonst manchmal, wenn es genügte, dass er das Fenster öffnete und sich zeigte, sondern wartete, bis der Lärm von allein verstummte. Ich dachte schon, ich hätte die Pausenklingel verpasst, aber da schrillte sie los, und er schaute in selben Augenblick auf die Uhr wie ich. Dann rief er nach der Sekretärin, und genauso wie er gerade noch für mich Kaffee hatte kommen lassen, ohne mich zu fragen, trug er ihr jetzt auf, in meine Klasse zu gehen und zu sagen, ich würde mich verspäten. Dabei lehnte er sich zurück, als wollte er damit nur um so deutlicher machen, dass er nach Belieben über mich verfügen könne, und fragte mich, ob auch mir aufgefallen sei, was für Attitüden Daniel nach seinem Aufenthalt in Israel entwickelt habe.
    »Attitüden?«
    Ich ahnte, worauf er anspielte, aber ich hatte meine Zweifel, ob es bloß Getue war oder ob Daniel nicht tatsächlich eine Art Erweckungserlebnis gehabt hatte, und vielleicht war das am Ende nicht einmal ein Widerspruch.
    »Ein wenig sonderbar ist er davor schon gewesen«, sagte ich ausweichend. »Das hat sich auf der Reise nur verstärkt.«
    Auch ich hatte mich damals gewundert, dass er auf einmal strikt einen Fasttag pro Woche hielt, dass er an einem Nachmittag im Altersheim aushalf und an einem anderen einer Blinden ohne Entgelt Romane vorlas, aber ich hatte mich nicht nach dem Grund gefragt, und schon gar nicht, ob das echt sei oder nicht. Man hatte mir erzählt, dass er im darauffolgenden Herbst regelrechte Wallfahrten zu einer Pestkapelle im Wald machte oder dass er sich bei Einbruch der Dunkelheit auf kilometerlange Märsche den Fluss entlang begab, und natürlich war mir nicht entgangen, dass er sich auch äußerlich verändert hatte. Er tauschte seine dicke Brille gegen Kontaktlinsen, trug sein Haar schulterlang, ließ auf Kinn und Oberlippe einen ersten Flaum sprießen, und ich wusste, dass es allein schon deshalb Geschichten über ihn gab, die darin gipfelten, dass er bei einem Faschingsfest in Beduinentracht aufgetreten sei, als Wiedergänger von Lawrence von Arabien, und seither seinen Spitznamen hatte, seither nicht nur von den Mitschülern, sondern auch von den Lehrern im Konferenzzimmer Jesus genannt wurde, selbstverständlich in amerikanischer Aussprache.
    »Was hätte mich da noch groß überraschen sollen?«
    Ich merkte, dass der Direktor über meinem wortreichen Lavieren immer ungeduldiger wurde. Er hatte sich jetzt richtig in seinen Sessel gefläzt, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, und als ich schwieg, sagte er, das sei ein lächerliches Entbehrungs- und Entsagungsprogramm gewesen, und nannte Daniels plötzliches Engagement für die Armen und Schwachen plakativ und selbstverliebt. Dann brüstete er sich, er könne eine ganze Reihe von Sprüchen aus seinem damaligen Repertoire zitieren, alle Auswüchse seines Größenwahns, alle ein Beweis, zu was für einem unverschämten Hochstapler er sich entwickelt habe, wolle mir das aber ersparen.
    »Allein dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit den immer gleichen Unsinn zum besten gegeben hat, erst in der Wüste habe er wahrgenommen, was in unserer Welt alles verlorengegangen sei, ist in seiner Dürftigkeit kaum zu unterbieten.«
    »Das kommt von seiner Vorliebe fürs Paradoxe«, sagte ich. »Er ist geradezu zwanghaft veranlagt, das Nichts mit dem Unendlichen gleichzusetzen und das Unendliche mit dem Nichts.«
    Ich sagte, er sei manchmal so verliebt ins Abstrakte gewesen, dass für ihn eine simple mathematische Tatsache ein Beweis für die Existenz Gottes sein konnte, aber als ich ein Beispiel geben wollte, winkte der Direktor ab.
    »Hat er dir auch eine Stelle aus den Evangelien

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