Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
Vom Netzwerk:
konnte mich glücklich schätzen, dass sie mir nachsah, wie sehr ich überreagiert hatte. Ich hatte ihn pflichtschuldig auf meinen Knien hin- und hergewippt, hatte ihn in die Luft geworfen und brav wieder aufgefangen, hatte ihm mit zwei, drei fachmännischen Griffen ein Quietschen entlockt und war dann plötzlich aufgesprungen und hatte gesagt, ich müsse nach Hause. Es war die Seligkeit ihres Lächelns gewesen, die mich dazu gebracht hatte, ein Zutrauen, als wäre ich der leibhaftige Vater, ein ausgewachsener Prototyp, oder wenn schon nicht der, so mindestens der heilige Josef oder der liebe Gott selbst, und ich hatte mich nicht im geringsten bemüht, mein Entsetzen zu verbergen. Ich war hinausgestürzt, als wäre es sonst für jede Flucht zu spät und ich müsste nach Milch und Urin und einem unabwaschbaren Glück riechen, das nicht vom Unglück zu unterscheiden wäre, aber das, versteht sich, ist eine andere Geschichte.

 
     
    Zweiter Teil
     
    DER REVEREND

1
    Sich in einem Roman wiederzuerkennen ist eine Erfahrung, die wahrscheinlich niemand gern macht, aber sich aus einer Sache herauszureden, in die man hineingeschrieben worden ist, scheint mir ein hoffnungsloses Unterfangen, und ich versuche es erst gar nicht. Ich habe die Prozesse verfolgt, die in jüngster Zeit deswegen gegen literarische Werke angestrengt worden sind, wenn man sie denn so nennen will, und kann immer nur das grotesk Paradoxe darin sehen. Ein Kläger muss gleichzeitig behaupten, er sei es und er sei es nicht, und seine Empörung darüber kundtun, dass er sich von einer Darstellung, die ihn allem Anschein nach mitten ins Herz trifft, gleichzeitig ums Ganze verfehlt fühlt. Offensichtlich ist das menschliche Spektrum weniger breit, als man denkt, und obwohl alle sich so viel auf ihre Individualität zugute halten, genügen für eine Karikatur ein paar Striche. Dabei sind unsere Brüder und Schwestern auf dem Papier immer nur in dem Maß größer oder kleiner als wir, in dem wir sie kleiner oder größer machen, und wir können uns damit trösten, dass wir am Ende einzig und allein selbst entscheiden, ob wir diese Doppelgänger haben wollen oder nicht.
    Ich schreibe das aus der Distanz und will nicht sagen, dass ich kein Wort davon glaube, aber es ist eine erbärmliche Abgeklärtheit, die ich mir auferlegt habe und die mir in Wirklichkeit fehlt, die mir jedenfalls ganz und gar fehlte, als Daniel mir das Manuskript in die Hand drückte und mich warnte, ich solle selbst entscheiden, ob ich es lesen wolle oder nicht. Das ist jetzt vier Jahre her, er hatte sich wieder einmal bei mir angesagt und war, auf der Durchreise, zum ersten Mal seit längerer Zeit auch über Nacht geblieben. Er war auf dem Weg nach Elba, wo er Freunde treffen sollte, mit denen er gemeinsam in Bosnien gewesen war. Nach Abbruch seines Studiums und nach den beiden Wintermonaten in meinem Haus, die er einmal als eine Art Überlebenstraining, einmal als Akt der Askese hinstellte, hatte er damals nach Albanien reisen wollen, sich aber auf der Fahrt einer Gruppe von jungen Italienern angeschlossen, die für eine internationale Organisation arbeiteten und in der Nähe von Sarajevo eine Siedlung für aus dem Krieg zurückkehrende Flüchtlinge errichteten. Er hatte sich für Kost und Logis verdingt, anfangs als Handlanger und Mädchen für alles, später als Zimmermannsgehilfe beim Dachdecken, und es war, mehr als acht Monate, seine längste durchgehende Arbeit geworden, von der er mir begeistert schrieb, es sei endlich einmal eine Tätigkeit, deren Nützlichkeit er nicht in Frage stelle, endlich einmal etwas, das man nicht genausogut auch sein lassen könne.
    Warum er sich so ausführlich darüber ausließ, verstand ich erst, als er den Anlass des Treffens erwähnte und ich die alten Muster erkannte. Es war die Hochzeit eines damaligen Mitarbeiters mit einer jungen Muslimin, die er bei dem Einsatz kennengelernt hatte, und so wie er von ihr sprach, hätte er selbst in sie verliebt sein können, brachte er ihr doch eine fast schon ministrantenhafte Verehrung entgegen. Ich wusste da über seine verdrehte Wahrnehmung, wenn es um Frauen ging, schon zu gut Bescheid. Wenn er ihre Blicke schüchtern nannte und sie statt dessen auch verführerisch hätte nennen können, war es leicht zu durchschauen, und ich ahnte, dass ihr Kopftuch und die langen Kleider alles andere bei ihm auslösten als fromme Gedanken.
    Ansonsten erzählte er, wie er immer erzählte, wenn es um das ging, was er gerade

Weitere Kostenlose Bücher