Eine Ahnung vom Anfang
vorgelesen und dich dann gefragt, was aus deiner Kindheit du am meisten vermisst?«
Ich schwieg, aber mir war klar, wie wenig er davon hielt, als er mir anvertraute, Daniel habe damals auch ihm ein Schreiben mit der Bitte um ein oder zwei Sätze zu der Frage geschickt. In seiner Stimme machte sich jetzt ein unruhiges Flattern bemerkbar, und ich fürchtete schon, er würde kurz vor einem der cholerischen Ausbrüche stehen, die ihm nachgesagt wurden, obwohl sich merkwürdigerweise niemand fand, der je einen erlebt hatte. Dann gab er sich aber damit zufrieden, über die Verlogenheit dieser Poesie des Verschwindens, die so sehr en vogue sei, zu lästern und über Daniels Insistieren zu staunen, sich mit einer solchen Kläglichkeit an alle und jeden zu wenden.
»Er soll bei seiner Rückkehr keinen von seinen Bekannten ausgelassen haben«, sagte er. »Wenn es stimmt, dass er Listen mit ihren Antworten angelegt hat, muss es ein richtiges Höllenregister sein.«
Die Vorstellung bereitete ihm offensichtlich Vergnügen.
»Ich würde gern wissen, was du gesagt hast.«
Er ließ sich jetzt Zeit, weil er sicher war, mich in die Enge getrieben zu haben, und als ich wieder nichts sagte, schien er den Raum mit jedem Wort noch kleiner machen zu wollen.
»Hast du ihm bei der Gelegenheit nicht Camus empfohlen?«
Der Fremde galt nun wahrlich nicht als Geheimtip, auch bei uns in der Provinz nicht, aber es war nicht nur das erste von Roberts Büchern gewesen, das ich ihm gegeben hatte, sondern zugleich das Buch, das mein Bruder in diesem Alter als sein Lieblingsbuch bezeichnet hatte. Ich hatte Daniel auf dem Fußballplatz getroffen und zu mir nach Hause eingeladen, als es zu regnen begann, und er war mir in einem alten Pullover, den ich ihm geliehen hatte, im Wohnzimmer gegenübergesessen, sein Haar strubbelig trocken gerubbelt. Ich hatte zu ihm gesagt, es sei ein Buch über die Wüste, und was immer man davon hielt, es war lächerlich, wenn ich mich jetzt dafür rechtfertigen sollte.
»Wir müssen doch nicht noch einmal über Camus streiten.«
Der Direktor unterrichtete im Hauptfach Physik und war kein großer Leser, aber er hatte sich hinter mich gestellt, als der Elternverein gegen mich auf die Barrikaden gegangen war, weil ich mit der Theatergruppe Die Gerechten geprobt hatte. Es war Daniels Wahl gewesen, womöglich um mir zu Gefallen zu sein, nachdem ich ihn auf den Autor gebracht hatte, und heute sage ich mir, ohne dieses Stück, ohne die Proben, bei denen sie sich zweimal in der Woche in einer ganz anderen Umgebung sahen, wäre vielleicht auch seine Geschichte mit Christoph und Judith eine andere geworden, oder es hätte gar keine Geschichte gegeben, aber darum ging es ja nicht. Es ging darum, dass eine kleine Gruppe im Elternverein allen Ernstes die aufrührerischen Ideen fürchtete, die ich den armen Kindern damit in den Kopf setzte, und so lange versuchte, unsere Arbeit zu unterbinden, bis klar war, dass wir ohnehin keine Aufführung zustande bringen würden.
»Auf der ganzen Welt wird Camus von irgendwelchen Besserwissern wegen seiner Harmlosigkeit geschmäht, und bei uns gilt er als gefährlicher Autor«, sagte ich. »Wir machen uns lächerlich, wenn wir darüber auch nur ein weiteres Wort verlieren.«
Der Direktor ging nicht darauf ein und fragte statt dessen, ob ich jemals Der Abtrünnige gelesen hätte. Ich sagte nein, und er sagte, es sei eine Erzählung aus dem Band Das Exil und das Reich und ich solle es unbedingt nachholen, und dann sagte er, es sei eine Erzählung über die Wüste, und ich fragte mich, ob es Zufall war, dass er dieselbe Formulierung verwendete, die ich verwendet hatte, oder ob er das wusste und mir nur wieder einmal zu verstehen geben wollte, dass ich nichts vor ihm verbergen könne. Er hatte jetzt dieses Lächeln aufgesetzt, das manche wölfisch nennen, aber mir kam es nur vor, als würde er es kaum schaffen, den Ausdruck zu halten, und müsste ihn immer neu nachjustieren, was ihn kleine schnappende Bewegungen mit dem Mund vollführen ließ.
»Darin gibt es einen, der in die Wüste geht, aber nicht um dort Gnade zu finden, sondern weil er vom Glauben abgefallen ist und sich dem Bösen verschrieben hat«, sagte er. »Er spottet über den Herrn der Sanftmut, dessen bloßer Name ihn mit Abscheu erfülle, macht sich lustig darüber, dass er denen, die ihn schlagen, die andere Wange hinhält, und erklärt, er wolle es der Liebe heimzahlen und allen, die dieses Wort ständig im Mund führen,
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