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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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Nähe im Nebel eine Massenkarambolage gegeben hatte, mit fast drei Dutzend Autos und vier Toten, und als sie zurück waren, lagen immer noch verwelkte Blumen an der Böschung, und man konnte in den Feldern, unweit der damaligen Landestelle des Bombers, Wrackteile finden. Sie gingen häufig in die Raststätte zum Essen und mussten den parallel zu den Fahrbahnen verlaufenden Schotterweg nehmen. Es gab jetzt keine Bekehrungsversuche mehr, keine Rettungsversprechen, und wenn man etwas über sie hörte, waren es Andeutungen, dass die Streitigkeiten mit den türkischen Nachbarn zugenommen hätten, Beschwerden, dass in einem Hinterhof geschächtet werde, gegenseitige Anschuldigungen, nicht zu grüßen, bis eines Morgens der große Kombi mit zerstochenen Reifen und abgerissenen Scheibenwischern auf der Straße stand. Der Reverend holte die Mädchen ins Haus, wenn die Jungen mit ihren Mopeds auftauchten, und man konnte sie nur mehr selten im Garten sehen, lauschte vergeblich auf das beruhigende Plop-Plop der Federbälle, das ein paar Wochen lang zu jeder Tageszeit hatte einsetzen können, und begann ihre selbstverständliche Anwesenheit im Freien zu vermissen.
    Es war auch in diesem Jahr, dass ich sie zum ersten Mal sah. Im Sommer davor war nie jemand dagewesen, wenn ich an ihrem Haus vorbeikam, aber jetzt ergab es sich in der Raststätte fast zwangsläufig, dass wir aufeinandertrafen. Ich fuhr da schon immer wieder zur Mühle hinaus, ohne dass ich mich entschließen konnte, was ich mit ihr tun sollte, und wenn ich auf dem Rückweg meinen obligatorischen Halt machte, stieß ich manchmal auf sie. Ich hatte nach dem, was über sie erzählt wurde, ganz andere Vorstellungen von ihnen gehabt und merkte erstaunt, von welchen Bildern die stammten. Es war lächerlich genug, aber ich hatte mir tatsächlich eine Quaker- oder eine Amish-Familie ausgedacht, in der ganzen Strenge und Beschränktheit, wie ich sie von Fotos kannte, und musste mich von der Wirklichkeit nun eines Besseren belehren lassen. Der Reverend war ein massiger Mann, sicher über hundertzwanzig Kilo, ein guter Esser, mit schweren Händen, für die er immer eine Ablage suchte und die er nur in Ermangelung einer anderen Möglichkeit in seinem Schoß faltete, die Frau ohne alle Sprödigkeit, mit einem weichen Gesicht und weichen, braunen Augen, und die Mädchen ganz Mädchen, ganz Frische und Anmut, keine Rede davon, dass sie besonders verschlossen waren, wie ich gehört hatte, keine Rede von einer ungesunden Blässe nach ein paar langen Ferienwochen. Zusammen fielen sie höchstens dadurch auf, dass sie immer am gleichen Tisch saßen und nicht in Eile waren wie alle anderen, die nur zum Tanken und für einen Imbiss stehenblieben und gleich wieder verschwanden.
    Schon da hatte ich den Eindruck, dass der Reverend mich wahrnahm, dass er einen Punkt daraus machte, mir zuzunicken, wenn ich kam oder ging, und kurz davor war, ein Gespräch mit mir zu beginnen, was er aber erst im Jahr darauf tat, als sie zum letzten Mal den Sommer im Dorf verbrachten und ich tagtäglich zum Fluss hinausfuhr und fast ebenso tagtäglich die Raststätte aufsuchte. Ich saß an der Theke und hatte ihn nicht herankommen sehen, da stand er plötzlich hinter mir und fragte, ob er mich auf einen Kaffee einladen könne. Seine Stimme war tief und schien noch, wenn er sie senkte, durch den ganzen Gastraum zu hören zu sein. Er wartete meine Antwort nicht ab und bestellte, während er einen Hocker neben mich zog und sich umständlich zurechtsetzte. Ich hatte mich ihm nicht ganz zugewandt und verharrte mit steifen Schultern in meiner halb verwinkelten Stellung, dass er es nur als Affront auffassen konnte, aber er tat so, als merkte er es nicht, zündete sich eine Zigarette an und schob mir mit einem angedeuteten Nicken die Packung hin.
    »Sie haben ein Haus draußen am Fluss.«
    Ich sah, dass seine Frau und die Mädchen an ihrem Tisch sitzen geblieben waren und uns beobachteten, aber an ihren Gesichtern ließ sich nichts ablesen.
    »Davon kann keine Rede sein«, sagte ich. »Es ist nur eine alte Mühle, und sie ist in einem Zustand, dass sie bald in sich zusammenfällt, wenn ich mir nicht etwas überlege.«
    Ich weiß nicht, ob er es auf eine Einladung anlegte, als er sagte, sie seien manchmal in der Gegend, aber ich ging nicht darauf ein. Der Kaffee kam, und ich nickte ihm zu, obwohl ich ihm weiterhin halb den Rücken zukehrte. Er rauchte eine Weile, und dann erzählte er, sein Großvater habe ein Haus an

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