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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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dass ich den Reverend nach dieser Unterhaltung in der Raststätte noch einmal sehen würde, und schon gar nicht hätte ich gedacht, dass er nach seinem nächtlichen Besuch am Fluss gleich tags darauf mit seiner Frau und den beiden älteren Mädchen wieder dort auftauchen könnte, angeblich um die Jacke zu holen, die er vergessen hatte. Es war ohnehin ein merkwürdiger Tag, und dass ich ihn im nachhinein mit einem ersten Anflug von Herbst zusammenbringe, ist wohl eher auf meine Stimmung zurückzuführen als darauf, dass es in der Früh deutlich kühler geworden war. Denn als ich am Morgen hinausfuhr zum Haus, schwankte ich zwischen der Vorfreude auf einen weiteren Sommertag, wie ich sie all diese Tage gehabt hatte, und einer Ahnung, es könnte etwas für immer anders sein. Ich hatte die beiden Jungen am Vorabend mit Judith allein gelassen und war leichten Herzens davongegangen, wie man so sagt, aber jetzt kam ich mir wie ein Eindringling vor. Es waren bis dahin nicht die Jahre gewesen, die uns trennten, doch die paar Stunden meiner Abwesenheit genügten, dass ich mich zögernd näherte, als fürchtete ich, bei ihnen keinen Ort und keine Zeit mehr für mich zu finden. Ich hatte nicht erwartet, dass sie noch schliefen, und es war trotz der leeren Bierflaschen und Zigarettenkippen, trotz der nachlässig verstreuten Kleider ein friedliches Bild, obwohl sich mir gleichzeitig der Gedanke aufdrängte, dass sie auch nach einer Katastrophe so daliegen würden und dass ein Mörder sie womöglich genauso arrangiert hätte.
    Ich hatte mit Daniel auf unser Gespräch vom Nachmittag davor zurückkommen wollen, bei dem er so desillusioniert auf mich gewirkt hatte, aber die Neuigkeiten über den Reverend überdeckten alles, und ich dachte nicht mehr daran. Während ich mich mit ihm unterhielt, hatte ich den Eindruck, er könne es kaum erwarten, dass Judith wach wurde, und später kam es mir vor, als wiche er ihr aus und suchte gleichzeitig ihre Nähe. Er war mir vorher nie so fragil erschienen, barfuß, in seiner hochgekrempelten Hose und dem viel zu weiten T-Shirt, kaum anders als bei unserer ersten Begegnung, obwohl die vier Jahre her war, und so wie er sich um Judith bemühte und, selbst wenn er ruhig dasaß, nur für sie dazusitzen schien, hatte es etwas hilflos Kindliches. Er wusste offensichtlich nicht, wie er sich an sie wenden sollte, und sie erleichterte es ihm nicht, indem sie jeden Versuch mit einem ironischen Lächeln begleitete. Sie ließ sich nur schwer überreden, für einen Kaffee zu bleiben, und machte sich danach gleich auf den Weg, und ich weiß noch, wie sie sich von ihm verabschiedete. Es war ein Augenblick äußerster Anspannung, als sie sich auf ihr Fahrrad setzen wollte, aber mitten in der Bewegung innehielt und auf ihn zutrat und mir schlagartig klar wurde, was in der Nacht geschehen sein musste.
    »Viel Glück in deinem weiteren Leben«, sagte sie, und es hätte nicht spöttischer sein können. »Jetzt, wo du gerettet bist, kann dir ja nichts mehr passieren.«
    Ich habe genau gehört, wie sie ihn dann Jesus nannte, und das war um so bemerkenswerter, als sie es davor nie getan hatte, eine von den wenigen, denen das immer zu plump gewesen war. Sie stand ihm steif gegenüber, und tatsächlich wirkte das genauso künstlich wie die Umarmung, mit der sie sich gerade noch Christoph an den Hals geworfen hatte. Die ganze Szene erinnerte mich an die Proben in der Theatergruppe, an ihre Spiellust, wenn sie sich manchmal vom Stücktext befreit hatte und in einer mehr inszenierten als wirklich erlebten Trance Dinge sagte, die ihr in den Sinn kamen, in der Vorlage jedoch nirgendwo zu finden waren. Sie hatte das Fahrrad wie eine Barrikade zwischen sich und ihn geschoben, und einen Augenblick hielt ich alles für möglich, sogar dass sie ihn in einer plötzlichen Anwandlung schlagen oder dass sie in Weinen ausbrechen würde.
    Er sagte nichts und sah zu, wie sie ein Buch aufhob, das vor ihr auf dem Boden lag. Es war Die Wiederholung von Peter Handke, wer auch immer es mitgebracht hatte, und als sie darin zu blättern begann, kam es wie die reinste Provokation daher. Sie tat so, als hätte sie sich an einer Stelle festgelesen, aber dann schlug sie es zu und hielt es für uns alle sichtbar in die Luft.
    »Will das jemand von euch?«
    Als sie keine Antwort bekam, klemmte sie es sich zuerst unter den Arm und befestigte es schließlich nachlässig auf dem Gepäckträger des Fahrrads. Dann schwang sie sich hinauf und schaute noch

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