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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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nächsten Häusern war groß, alles aufgegebene Güter, die jetzt von türkischen Familien bewohnt wurden und dem Ortsteil mit seinen paar Dutzend Einwohnern in den Gasthausgesprächen den Namen Little Istanbul gaben, was angeblich auch erklärte, warum sie von Anfang an für sich blieben. Dafür tauchten bald schon die ersten Mopeds an dem halb verwahrlosten Grundstück auf, deren Knattern sie von weitem ankündigte, und man konnte zu jeder Tageszeit Jungen sehen, die jetzt ihren Treffpunkt dort hatten, den Mädchen über die Reste einer Hecke hinweg bei ihren Spielen zusahen und, möglichst ohne den Anschein von Eile zu erwecken, aufbrachen, wenn der Reverend oder seine Frau vor die Tür trat.
    An manchen Tagen sah man die ganze Familie frühmorgens in den Kombi steigen und wegfahren und erst spätabends wieder zurückkommen, und es fiel zwar auf, dass sie immer wieder auf der Trasse der damals noch im Bau befindlichen Autobahn einen Spaziergang machten, aber das taten andere auch, als müsste das Land ein letztes Mal in Besitz genommen werden, bevor die Strecke den Autos übergeben wurde. Meistens schlenderten sie die paar Minuten bis zur Raststätte, die erst im Rohbau war, breiteten dort eine Decke aus und picknickten oder saßen eine Weile nur da. Das Wetter war in der Regel gut, aber sie ließen sich von diesem Ritual auch nicht abhalten, wenn es regnete, hatten dann Schirme dabei, standen mit gesenkten Köpfen um einen leeren Mittelpunkt im Kreis und schienen zu beten.
    Das war der Stand der Dinge, als ich eines Tages auf dem Hauptplatz zufällig in Herrn Bleichert hineinlief, dem ich seit Beginn der Ferien nicht mehr begegnet war. Ich hatte die Geschichten davor von allen möglichen Leuten gehört, schließlich waren der Reverend und seine Familie in diesem Sommer nicht nur im Bruckner das erste Gesprächsthema, aber es brauchte schon den Pfarrer und seine Erregung, um mir wirklich klarzumachen, was da passierte. Er blieb auf dem Gehsteig neben mir stehen und hielt mich am Ärmel fest, während er prompt auf mich einzureden begann.
    »Hast du gehört, dass der Verrückte jetzt anfängt, die Leute im Gasthaus, oder wenn er sie auf der Straße trifft, mit seinen Vorstößen zu belästigen, ob sie an die Bibel und an Jesus Christus glauben?« fragte er. »Er stellt sie vor die Wahl, ob sie gerettet werden wollen oder nicht, und schwört, eine todsichere Methode zu haben und nur zehn Minuten ihrer Zeit in Anspruch zu nehmen, um sie vor der Hölle zu bewahren.«
    Er war so außer sich, dass er sich verhaspelte und immer noch eine Anekdote über den Reverend zum besten gab, immer noch einen Vorfall, der zeigen sollte, wozu er sich verstieg.
    »Ausgerechnet einen Arbeiter, der gerade von seiner Schicht im Betonwerk nach Hause geht, spricht er nach ein paar unverfänglichen Sätzen über das Wetter darauf an, ob er eine Vorstellung habe, wohin er käme, wenn er in diesem Augenblick sterben würde. Das darf doch nicht wahr sein. Einen arglos vor sich hin Bummelnden fragt er, ob er wisse, dass er ein Sünder sei, einen anderen, ob er mit ihm beten wolle, und als der Mann das verneint, bietet er ihm an, für ihn zu beten, und als er auch damit auf Ablehnung stößt, versichert er ihm, Gott würde ihn trotzdem lieben und ihm hoffentlich eines Tages das Herz öffnen.«
    »Das klingt ja ganz, als ob du eifersüchtig wärest«, sagte ich lachend, als Herr Bleichert schließlich atemlos eine Pause machte. »Wie spricht er eigentlich mit ihnen?«
    »Das versuche ich dir doch gerade zu erklären. Wie soll er schon sprechen? Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«
    »Spricht er deutsch?«
    Herr Bleichert nickte.
    »Für einen Amerikaner sogar sehr gut.«
    Er ließ meinen Ärmel los und sah mich an.
    »Dabei soll er den Eindruck erwecken, als hätte er die paar Sätze auswendig gelernt«, sagte er dann. »Das muss seine Auftritte noch grotesker machen, und die meisten fliehen, wenn sie ihn nur sehen.«
    Trotz dieser Vorkommnisse gab es am Ende so wenig Faktisches, dass das Gerede schon überhandzunehmen begann, Mutmaßungen, dass der Reverend und seine Familie sicher nicht freiwillig aus Amerika weggegangen seien, und was sie wohl zu verbergen hätten, als in der dritten Woche ihres Aufenthalts ein langer Bericht über sie in der Zeitung erschien, und darin fanden sich dann wahrlich romanhafte Züge. Ich wurde von Agata darauf hingewiesen, und obwohl sie sonst nichts von den Geschichten hielt, die im Bruckner kursierten,

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