Eine Ahnung vom Anfang
ließ sie sich jetzt davon mitreißen. Die Arme weit von sich gestreckt, stand sie hinter der Theke und schien bereit, vor Neugier selbst jedes Geheimnis auszuplaudern.
»Hast du das über die Sektenleute schon gesehen?«
Sie schob mir die Zeitung hin.
»Offenbar sind sie nicht zufällig hier. Sie haben sich den Ort gezielt ausgesucht. Der Grund ist der amerikanische Bomber, der im Zweiten Weltkrieg auf den Wiesen in der Au notgelandet ist. Das Ereignis jährt sich in diesem Sommer zum fünfzigsten Mal.«
»Aber was hat das mit ihnen zu tun?«
»Der Reverend scheint der Sohn eines der damaligen Besatzungsmitglieder zu sein«, sagte sie. »Er hat sich schon immer die Stelle ansehen wollen, an der sein Vater um ein Haar ums Leben gekommen wäre. Die Rede ist von einem Gelübde. Außerdem muss er selbst wenige Tage nach der Bruchlandung geboren sein, und es soll ein doppeltes Jubiläum für ihn werden.«
Ich fragte sie, warum er dann überhaupt ein Geheimnis um den Grund seines Hierseins gemacht und niemandem im Gasthaus oder auf der Straße etwas von der Geschichte seines Vaters erzählt habe, und sie zögerte nicht mit der Antwort.
»Er hat sich die Aufgabe gestellt, zuerst wenigstens zehn Seelen zu retten, aber die Leute von der Zeitung sind ihm zuvorgekommen.«
Illustriert war der Artikel mit drei Fotos, die zwar nichts von alldem bewiesen, aber immerhin passten. Das eine war ein Portraitbild, der Reverend in seinen Zwanzigern, und man hätte sich über einen militärischen Hintergrund nicht gewundert, bei dem uniformähnlichen Hemd, seinem Bürstenhaarschnitt und dem allzu klaren Blick. Das zweite Bild zeigte die Besatzung des Bombers, aufgenommen kurz vor ihrem letzten Einsatz, neun gerade erst erwachsen gewordene Männer, wie es schien, aufgestellt wie eine leicht dezimierte Fußballmannschaft, vier vorne, fünf hinten, sein Vater mit einem Pfeil hervorgehoben, und sie blickten alle mit einer Zuversicht in die Kamera, als ginge es wirklich nur um eine sportliche Auseinandersetzung, bei der zudem der Sieger schon feststand. Auf dem dritten Bild posierte eine junge Frau vor dem in der Wiese gestrandeten, wie ein verendetes Untier wirkenden Flugzeug, einen Arm in die Hüfte gestützt, den Kopf in den Nacken geworfen, wie sie es vielleicht auf einem Kinoplakat gesehen hatte, und hinter ihr ragten zwei geknickte Propellerblätter in die Luft und das leere Gerippe der Pilotenkanzel.
Für mich war das alles bestenfalls ein Kuriosum, und ich las halb amüsiert, halb kopfschüttelnd über die Verranntheit des Reverends, der sich seine eigene Welt zusammenbaute. Je mehr ich darüber in Erfahrung brachte, um so weniger fühlte ich mich angesprochen, und das galt vor allem für seinen religiösen Hintergrund. Es waren endzeitliche Visionen rund um die Wiederkehr Christi, die ihn umtrieben, und ich konnte der Zusammenklitterung von rationalen und irrationalen Splittern nichts abgewinnen, in der die Bruchlandung des Bombers als Wunder gefeiert wurde und die Überlebenden als Wiedergeborene.
Es hatte auf jeden Fall mit dem Bericht in der Zeitung zu tun, dass es am Tag des Jubiläums eine kleine Feier gab. Die Blaskapelle rückte aus, wie sie bei anderen Anlässen ausrückte, ein einziger Anachronismus, und schob sich in breiter Formation über die Autobahntrasse vor bis zur Landestelle. Dort hatte sich rund um ein Stehpult ein Häufchen Neugieriger versammelt, nicht mehr als eineinhalb Dutzend, manche wahrscheinlich nur dorthin bestellt, damit nicht gar keiner da wäre, und unter dem Lärm der Baumaschinen, die in den letzten Wochen näher gekommen waren, brachte man es hinter sich. Ein Vertreter des Gemeinderats hielt eine Rede, in der er von Terrorfliegern und Befreiern sprach, als wären die Worte beliebig austauschbar, aber alle klatschten, und dann las der Reverend etwas von einem Zettel ab, bevor er an Ort und Stelle eine Metallplatte mit den Namen der Besatzungmitglieder im Boden vergrub. Anschließend spielte noch einmal die Musik, und nachdem die Aufgebotenen wieder abgezogen waren, stand er allein mit seiner Frau und den drei Mädchen in der Landschaft. Es war halb vier am Nachmittag, und alle, die sie noch sahen, sprachen von einem ergreifenden Anblick, wie sie sich an den Händen nahmen, die Köpfe hoben und in den Himmel schauten.
Im Sommer darauf kamen sie wieder, aber da war das Teilstück der Autobahn schon fertig, und sie konnten nicht mehr über die Trasse gehen. Es war das Jahr, in dem es in der
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