Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
Vom Netzwerk:
einen zuwenig.
    Ich habe mich immer gewehrt, der Sache mit dem Altar irgendeine Bedeutung beizumessen, doch als ich davon las, ging mir auf einmal durch den Kopf, wie mich Robert als Fünf- oder Sechsjähriger nach der Geschichte von Abraham und Isaak gefragt hatte. Es war in einem der Sommer, die er bei der Großmutter im Dorf verbrachte, ich kam für ein Wochenende zu Besuch, und wir teilten uns das Schlafzimmer mit der einschüchternden Spiegelkommode. Dort standen nicht nur die zum Verwechseln ähnlichen Hochzeitsfotos unserer Eltern und unserer Onkel und Tanten, es gab neben anderen Bildern, darunter den Portraits von zwei in Russland Gefallenen, auch ein Holzkruzifix mit einem winzigen Ölzweig, und ich erzählte ihm, dass der von einem der Bäume aus dem Garten Gethsemane stamme, die angeblich mehr als zweitausend Jahre alt waren. Er hatte davor noch unaufgefordert sein Nachtgebet verrichtet, war mit gesenktem Kopf, die Hände gefaltet, vor dem Bett gekniet, ohne sich darum zu kümmern, dass ich hinter ihm stand und auf seinen Scheitel blickte, und sprach jetzt aus, was ihn bewegte. Er fragte, warum Abraham von Gott aufgefordert worden sei, seinen Sohn zu opfern, und ich erinnere mich an die Dringlichkeit, mit der er wissen wollte, ob er es wirklich getan, ob er Isaak wirklich geschlachtet und auf einem Altar verbrannt hätte wie ein Stück Vieh, wenn er nicht in letzter Sekunde vom Engel des Herrn daran gehindert worden wäre.
    Ich staunte, wie manchmal hilflos und manchmal akkurat seine Wortwahl für sein Alter war, mit je nachdem tastenden Formulierungen und gleich darauf wie eins zu eins aus der Bibel, und wusste, dass meine Antwort nur unbefriedigend sein konnte, eine nichtssagende Beschwichtigung. Wir lagen lange schweigend nebeneinander im Dunkeln, und ich hatte den Eindruck, dass er den Atem anhielt, solange er es vermochte, und danach erst gepresst ein- und ausatmete, damit ich nichts merkte. Es war ein kleiner, fast quadratischer Raum, mehr eine Zelle, und wir hatten das Fenster, das auf den Obstgarten hinausging, offen und konnten die Lichter der vorbeifahrenden Autos an der Wand entlanggleiten sehen. Wir sahen, wie sie über den Schrank mit dem fast nie benützten Reisekoffer aus Schildpatt und Pappe glitten und wie sie das Herz-Jesu-Bild unmittelbar daneben aus der Finsternis rissen, dessen Strahlen dann noch eine Zeitlang nachzuglühen schienen. Dazu hörten wir die Züge in der Ferne, Züge, die in der Nacht lang waren wie die Lastzüge in den Büchern, die in Amerika von einer Küste zur anderen fuhren und auf die man im Anfahren aufspringen konnte, wenn man jung und geschickt war und einen Kopf hatte, der nicht wusste, wohin mit sich. Die Großmutter schlief auf der Couch in der Küche, und uns blieb das Bett, und auch wenn ich schon zu alt dafür war, registrierte ich genau, was für eine geheimnisvolle Welt das für ein Kind abgab, draußen die Weite mit ihren Geräuschen und der plötzlichen Lautlosigkeit und drinnen das Licht- und Schattenspiel an den Wänden. Es war eine der Nächte, in denen Robert zuerst nur darum gebettelt, dann aber regelrecht gefleht hatte, nicht schlafen zu müssen, und ich erinnere mich an sein Entsetzen, das nicht zu dämpfen war, an seine immer gleiche Frage, wie Gott so etwas von einem Menschen verlangen könne, an seinen schließlich ruhigen Atem an meiner Brust und den kleinen Körper, der sich im Einschlafen zuckend an mich presste und die Arme um mich schlang.
    Ähnlich erschüttert hatte ich ihn nur erlebt, als die Großmutter ihm erzählte, sie sei Anfang der dreißiger Jahre drauf und dran gewesen, mit ihrem Mann nach Brasilien auszuwandern. Er fragte sie, ob er dann jetzt im Urwald leben würde, und bekam von ihr die Antwort, es würde ihn nicht geben, und ich musste es ihm erklären. Er war damals schon ein paar Jahre älter, vielleicht neun, aber sonst schien die Situation die gleiche, wieder in ihrem Bett, wieder Nacht und wieder im Sommer, und je länger wir darüber sprachen, um so mehr löste die Vorstellung in ihm ein gruseliges Behagen aus, das ich viel später auch in einem der wenigen Briefe zu finden glaubte, die er von seinem Schuljahr in Amerika nach Hause schrieb. Darin war von der Euphorie die Rede, die ihn manchmal packe, wenn ihm plötzlich der Gedanke durch den Kopf schieße, auf einem anderen Kontinent unter lauter fremden Menschen zu sein, und er sich vorstelle, niemand wisse, wo er sich aufhalte, er könnte tot umfallen und die Leute

Weitere Kostenlose Bücher