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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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stellte sich anders dar. Solange es im Herbst noch warm genug war und dann im Frühjahr wieder, sah ich zu, dass ich möglichst im Freien einen Platz fand, während ich im Winter so lange umherschlenderte, bis ich irgendwo vor der Kälte unterkroch, und ich hatte natürlich Lieblingsorte. Entweder ging ich direkt von meiner Wohnung in Cihangir hinter dem Galatasaray-Gymnasium zum Wasser hinunter, oder ich schweifte nach dem Unterricht in der Österreichischen Schule von dort aus. Dabei brauchte ich nur am Ende des Häuserblocks nach links abzubiegen und ein paar Schritte die Gasse hinauf zum ehemaligen Englischen Hospital zu gehen, zu dem ein kleiner Garten gehörte, oder ich stieg in die andere Richtung die Strudlhofstiege hinab, wie die Kollegen die Jugendstiltreppe an der Ecke nannten, und war in wenigen Minuten an der Galata-Brücke, die gewiss keine große Entdeckung ist, aber auf der ich, abgeschirmt gegen Sonne oder Regen, zu jeder Tageszeit und bei jedem Wetter saß, entweder auf der westlichen Seite, mit Blick auf das Goldene Horn, oder auf der östlichen mit Blick auf den Bosporus. Ich erinnere mich besonders an die Tage spät im Jahr, wenn es früh dunkel wurde, ein gelblicher Dunst in der Luft hing und ich zuschaute, wie an den Ufern und in den Booten überall auf dem Wasser die Lichter angingen, und ich nach stundenlangem Lesen das Gefühl hatte, die Wirklichkeit würde sich vor meinen Augen auflösen und ich wäre in einer Zwischenwelt, weder da noch dort, weder in der Geschichte, die ich gerade las, noch in der Welt der Passanten, die zwischen Beyoğlu und Sultanahmet hin- und herwechselten und nicht sehen konnten, was ich sah.
    Es war diese Stimmung, in der ich auch der Frau des Reverends zuhörte, wie ich damals dem Direktor zugehört hatte, als ginge es gar nicht so sehr um das, was sie sagte, sondern um eine Formel, einen Ritus. Sie kam dann auch gleich wieder auf anderes zu sprechen, erzählte von ihren türkischen Nachbarn und davon, dass sie als erstes, wenn sie wieder zu Hause sei, in ihr Stammlokal gehen und einen Hamburger mit Spiegeleiern und Kartoffeln essen würde, erzählte von den beiden älteren Mädchen, die sich das ganze Jahr gegen einen weiteren Sommer im Dorf gewehrt hätten und jetzt auf einmal am liebsten hier blieben, und geriet vom Hundertsten ins Tausendste, bis sie eine Bemerkung machte, die zum Ausgangspunkt zurückführte. Am Ende lud sie mich ein, bald wiederzukommen, und ich stand ein paar Augenblicke an der Schwelle, als mir bewusst wurde, dass der Reverend sich immer weiter zurückgezogen hatte und schließlich, ganz aus meinem Sichtfeld verschwunden, uns aus der hintersten Ecke der Küche im Auge behielt. Er hatte sich mitsamt der aufblasbaren Couch Zentimeter um Zentimeter fortbewegt, und was für sich schon merkwürdig war, gipfelte darin, dass seine Frau mit mir sprach, als wäre er nicht da, und dass auch ich mich von seiner Anwesenheit nicht stören ließ.
    Dabei war es das letzte Mal, dass ich ihn sah, und sosehr ich bei dieser Gelegenheit schon auf Robert gestoßen wurde und über Dinge nachzudenken begann, über die ich bis dahin möglichst nicht nachgedacht hatte, holte mich das noch mehr ein, als ich Daniels Manuskript las. Denn darin war genau beschrieben, wie der Reverend auf die Idee zu seinem nächtlichen Besuch am Fluss gekommen war und was ihn dazu gebracht hatte, am Ufer entlang bis zu der Stelle zu gehen, an der mein Bruder seinem Leben ein Ende gesetzt hat, um dort für ihn zu beten. Er fühlte sich angeblich deswegen für ihn zuständig, weil er im Dorf erfahren hatte, dass Robert einen Altar aufgebaut haben soll, bevor er sich den Lauf des Gewehrs in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte. Ich habe das natürlich gewusst, all die aberwitzigen Details, beginnend mit dem auf dem nackten Erdboden ausgebreiteten Leintuch und dem Kreuz und den zwei Kerzen darauf, aber ich habe sie wieder vergessen, oder vielleicht nicht vergessen, ich hütete mich jedenfalls, an sie zu denken, und bekam sie erst beim Lesen von neuem in Erinnerung gerufen. Es war eine ganz und gar groteske Szenerie, die unberührte Flusslandschaft mit der schneller fließenden Strömung an der Engstelle und dem altertümlich anmutenden Aufbau darin, von dem man mir nur in Andeutungen erzählt hatte und den ich jetzt in unerträglicher Ausführlichkeit vorgesetzt bekam, weil es Daniels Art war, alles so zu beschreiben, als wäre er dabeigewesen, und lieber zwei Sätze zuviel zu sagen als

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