Eine Ahnung vom Anfang
Bild von ihm zu machen, und als ich hilflos fragte, ob der Reverend sich tatsächlich so sehr verändert habe, lachte Daniel nur.
»Er hat stark abgenommen gehabt. Ich sehe das Klappergestell noch vor mir. Er hat seinen schwarzen Anzug abgelegt und statt dessen eine Art Tunika getragen, die er an einem Souvenirstand gekauft haben muss.«
»Doch nicht etwa ein Priestergewand?«
»An ihm hat sie auf jeden Fall so gewirkt«, sagte er. »Dazu hat er seinen Bart wachsen lassen und sich in allem ein möglichst ärmliches Aussehen gegeben.«
Er schien es selbst kaum glauben zu können, so wie er dabei den Kopf schüttelte und mich ansah, während er ohne Pause weitersprach.
»Dann ist der Verrückte auch noch aus seinem Hotel im Stadtzentrum in eine billige Unterkunft im armenischen Viertel gezogen und hat morgens, wenn er nicht zu seinem Hebräisch-Unterricht musste, in aller Früh auf dem Platz vor der Grabeskirche Aufstellung genommen und munter sein Tagwerk begonnen.«
Mehr und mehr bekam ich den Eindruck, ich hätte die Geschichte, die er mir erzählte, schon einmal gehört. Ich wusste, dass es sogar einen Namen dafür gab und dass fast jeder Reiseführer dem Jerusalem-Syndrom, wie es genannt wurde, ein eigenes Kästchen widmete, und wenn ich ihm glauben wollte, hatte der Reverend einen Bilderbuchfall dafür abgegeben. Das schien mir allzu schön, um wahrscheinlich zu sein, und ich wies ihn darauf hin, aber er winkte ab.
»Nur weil es ein Klischee ist, heißt das noch lange nicht, dass er dagegen gefeit war«, sagte er. »Wenn du erst hörst, wozu er sich sonst noch aufgeschwungen hat, wirst du aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.«
Unberechenbar, wie ich den Reverend selbst erlebt hatte, konnte ich mir einiges vorstellen, aber dass er sich für seine Rettungs- und Bekehrungsversuche am Ende ausgerechnet die Klagemauer als Ort auserkoren und angeblich sogar nach Mea Shearim ins orthodoxe Viertel vorgedrungen sein soll, war des Guten entschieden zuviel.
»Das kann doch nicht einmal einem Verrückten einfallen«, sagte ich. »Bei allem Verständnis für seinen Hang zur Folklore, diese Grenze muss er doch wenigstens gewahrt haben.«
Daniel stimmte mir zu, als hätte er genau das erwartet.
»Schon richtig«, sagte er. »Möchte man meinen.«
Er schien sich über meine Empörung zu amüsieren.
»Die Leute in Jerusalem sind ganz andere Dinge gewöhnt.«
»Aber er kann doch nicht an der Klagemauer missionieren.«
»Man hat ihm seinen desolaten Zustand schon von weitem angesehen, und es war ein Glück, dass ihn niemand ernst genommen hat«, sagte er. »Außerdem hat man ihn gleich beim ersten Versuch aus dem Verkehr gezogen und in eine Klinik eingewiesen.«
Ich wusste immer weniger, was ich davon halten sollte, aber wenn ich das Ganze gerade noch angezweifelt hatte, war ich jetzt von seiner Richtigkeit überzeugt, mochte es vielleicht auch abgerundet und ausgeschmückt sein, um eine gute Anekdote abzugeben. Jedenfalls konnte ich mir vorstellen, dass der Reverend sich in diese Lage hineinmanövriert hatte, und wenn ich die Unhaltbarkeit seines Lebensmodells bedachte, war am Ende alles gar nicht so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick erschien. In Wirklichkeit amüsierte mich der Vorfall schon, und als ich fragte, was weiter mit ihm geschehen sei, musste ich lachen.
»Die Botschaft hat seine Frau informiert, und die ist ihn abholen gekommen«, sagte Daniel. »Sie hat alles in Bewegung gesetzt, um ihn in die Welt zurückzubringen.«
Er hatte die beiden zum Flughafen nach Tel Aviv begleitet, und der Reverend sei ihm in der Abflughalle um den Hals gefallen und habe ihn gebeten, nicht von der Stelle zu weichen und ihn zu vertreten, bis er in neuer Kraft zurückkehre.
»Wahrscheinlich ist ihm aber selbst schon klargeworden, dass er ein Problem hat«, sagte er. »Auf jeden Fall hat er einen erleichterten Eindruck gemacht, als er hinter der Absperrung zu den Gates verschwunden ist.«
Was auch immer man von der Geschichte halten mochte, sie half uns zumindest über den Anfang unseres Gesprächs hinweg, und wenn ich da noch dachte, Daniel stürze sich auf sie, um allem anderen auszuweichen, merkte ich nach und nach, wie froh ich selbst darüber war, und erschrak jetzt über die Stille. Ich hatte ihn gleich nach dem Aufstehen wegen seines Manuskripts zur Rede stellen wollen, insbesondere wegen der Passagen, die von Robert handelten, aber weder überfiel ich ihn damit, als er die Küche betrat, noch fand ich
Weitere Kostenlose Bücher