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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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sonst eine Möglichkeit oder wollte sie finden, darauf zu sprechen zu kommen. Es war schon neun, und ich hatte ursprünglich vorgehabt, nicht mehr als die erste Stunde ausfallen zu lassen, entschied mich aber, an dem Vormittag überhaupt nicht in die Schule zu gehen und mir Zeit für ihn zu nehmen. Ich hatte keine Eile, und als er sich erbot, in der Bäckerei am Ende der Straße Semmeln zu holen, nützte ich die Gelegenheit, mich in seinem Zimmer umzusehen. Wenig Gepäck, versteht sich, wie immer, eine leichte Reisetasche, in der sich nur Unterwäsche und zwei Hemden befanden, obwohl er auf dem Weg nach Italien war und mehrere Tage bleiben wollte, und auf dem Nachtkästchen entdeckte ich Gedichte von John Donne und Die sieben Säulen der Weisheit , das berühmte Buch von T. E. Lawrence, das er schon damals im Sommer gelesen hatte. Ich nahm es in die Hand und erinnerte mich wieder an die Geschichten von dem Faschingsfest, bei dem er angeblich in einem weißen Umhang, einem weißen Kopftuch und mit der Attrappe eines goldenen Dolches im Gürtel aufgetreten war und allen Anwesenden einen Eindruck gegeben hatte, wie weit er aus der Realität kippen konnte.
    Ich bin sicher, er ahnte, dass ich in seinen Sachen herumkramen würde, und es war alles kein Zufall, er hatte die Dinge so arrangiert, damit ich mir ein bestimmtes Bild von ihm ausmalte, aber als er zurückkam, verlor ich kein Wort darüber und staunte über seine Aufgeräumtheit, seine ostentative Gutgelauntheit, die dem Gespräch über den Reverend im nachhinein etwas Unaufrichtiges gab. Er hatte ihn zu schnell ans Messer geliefert, dachte ich, hatte eine Karikatur aus ihm gemacht, grotesker, als er in Wirklichkeit war, und ich fragte mich, was er damit verbergen wollte. Zwar würde er sich selbst nicht solche Volten erlauben, wie der Reverend sie sich erlaubte, aber ich zweifelte, ob die Frömmigkeit, die er als Schüler zuweilen so aufdringlich hervorgekehrt hatte, ganz und gar ins Gegenteil umgeschlagen war und ihn zu einem Zyniker in diesen Dingen werden ließ oder ob er die Episode in Jerusalem so weit von sich rückte, weil sie ihm näher ging, als er zugab.
    Er hatte den Reverend erst vor einem halben Jahr noch einmal gesehen, und davon sprach er ganz anders. Er war in Amerika gewesen, übrigens mit meinem Geld, und hatte die Familie besuchen wollen, und seine Schilderungen waren voll Zuneigung und ließen das Bild des Fanatikers mit seinen Eskapaden in Jerusalem darunter verschwimmen. Er hatte nicht erwartet, auf einen Rentner zu treffen, der allein in einer Kleinstadt lebte, weil seine Frau ihn verlassen hatte und die Mädchen längst ausgeflogen waren.
    »Zwar engagiert er sich noch in der Baptistengemeinde des Ortes, aber mit dem Missionieren hat er aufgehört, und in seinem Haus erinnert nur ein vergilbtes Spruchband mit der Aufschrift EINTAUSEND GERETTET , das im Wohnzimmer quer über eine Wand gespannt ist, an die glorreiche Zeit seiner Tätigkeit«, sagte er. »Dort hängen auch überall Polaroids, die ihn mit den Glücklichen zeigen, die er vor der Hölle bewahrt hat.«
    Im Grunde war das mehr, als ich wissen wollte, und als Daniel auch noch erzählte, dass auf dem Kaminsims ein Bild von dem in der Au notgelandeten Bomber gelehnt sei, sagte ich ihm, er könne sich seine Reminiszenzen ruhig sparen. Für mich war es reine Sentimentalität, und wenn ich zu einer anderen Stunde vielleicht darauf angesprungen wäre, vermochte ich seinem Schwärmen jetzt nichts abzugewinnen. Es war nur das Erwartbare, und ich reagierte kalt und bat ihn, zur Sache zu kommen.
    »Ob es dir gefällt oder nicht, der Reverend hat auch von dir gesprochen«, sagte er schließlich. »Er hat gesagt, er habe nie einen Menschen getroffen, der es nötiger gehabt hätte, gerettet zu werden, als du.«
    Ich fühlte mich unbehaglich und lachte. Selbstverständlich war mein erster Impuls, mich nach dem Grund zu erkundigen, doch dann erinnerte ich mich, wie die Frau des Reverends mich gefragt hatte, warum ich mich so grämte, und ich hatte Angst, Daniel würde einen Zusammenhang mit Roberts Tod herstellen oder etwas Schwammiges sagen, und ließ es sein. Statt dessen versuchte ich, einfach darüber hinwegzureden.
    »Wir sollten lieber klären, was mit dir ist.«
    Er wich aus, und ich drängte nicht weiter.
    »Außerdem muss der Reverend doch ganz andere Kandidaten gehabt haben«, sagte ich und bemühte mich nicht, meinen Spott zu verbergen. »Wenn nicht hier, dann vielleicht auf einem

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