Eine Ahnung vom Anfang
verlaufen, aber auf einmal hatte ich den Eindruck, sie könne ihre Erregung kaum unterdrücken, und allein die Erinnerung an die nächtliche Szene schien sie mit Abscheu zu erfüllen.
»Er hat sich in der Dunkelheit hingekniet und alles nachgesprochen, was ihm der Reverend vorgesprochen hat, angefangen damit, dass er an Jesus Christus und an die Bibel glaube. Da hätte nur gefehlt, dass er auf Knien zum Wasser hinuntergerutscht wäre, um dort die Taufe zu empfangen. Im Grunde genommen hat schon das Strahlen in seinen Augen gereicht.«
Sie sprach leise, und wenn sie gerade noch unruhig herumgefuchtelt hatte, ließ sie jetzt ihre Hände nebeneinander auf dem Tisch liegen, was ihrem ganzen Gebaren etwas Offizielles gab.
»Ich habe dann am eigenen Leib zu spüren bekommen, was er meinte, sich mit göttlichem Segen alles herausnehmen zu dürfen«, sagte sie. »Er hat sich in seinem Schlafsack neben mir ausgestreckt und aus dem Hohenlied zitiert, bis Christoph eingeschritten ist und sich in die Mitte gelegt hat.«
Ich hatte kaum Gelegenheit gehabt, etwas zu erwidern, so sehr war das aus ihr hervorgebrochen, und versuchte jetzt, nach ihrer Hand zu fassen, aber sie zog sie zurück.
»Das wundert dich«, sagte ich. »Er war in dich verliebt.«
»Ich würde eher sagen, er war verrückt.«
Es entging mir nicht, wie hart sie das Wort aussprach.
»Auf jeden Fall ist er auf einmal wie ein anderer Mensch gewesen«, sagte sie. »Manche mögen das als romantisch empfinden, aber für mich war es ein einziges Grauen.«
Ich hatte gedacht, es gebe schon lange keine Verbindung mehr zwischen ihnen, aber da erfuhr ich dann auch, dass er wieder angefangen hatte, sie mitten in der Nacht anzurufen.
»Das ist nicht das erste Mal, und wenn ich den Fehler begehe, den Hörer abzunehmen, versteigt er sich zu seinen alten Macken, die mir bereits damals draußen am Fluss Schauer über den Rücken getrieben haben.«
»Er zitiert aus dem Hohenlied?«
»Ja«, sagte sie. »Er nennt mich Tochter Jerusalems und Tochter Zions und schwärmt mir von den Hügeln des Libanon vor.«
»Das kann er unmöglich ernst meinen.«
»Aber was soll dann das Hohelied?«
Ich zuckte nur mit den Schultern, und sie lachte gequält.
»Es ist der gleiche Sermon, wenn er erst einmal losgelegt hat, die gleiche aufgerauhte Stimme, das gleiche Gefühl von Bedrohung«, sagte sie. »Ich vergewissere mich jedesmal, ob Türen und Fenster geschlossen sind, und schaue hinaus auf die nächtliche Straße, ob er sich nicht irgendwo zwischen den Häusern herumdrückt.«
Dabei sah sie mich mit einem Ausdruck an, den ich davor noch nie an ihr bemerkt hatte, eine Mischung aus Unsicherheit und Empörung, die den ganzen Abend nicht mehr aus ihrem Gesicht wich, und als sie weitersprach, war die Bitterkeit in ihrer Stimme unüberhörbar.
»Ich liege dann lange im Bett und kann nicht einschlafen, wenn ich mir vorstelle, dass er irgendwo in der Dunkelheit steht und mir auflauert.«
Es waren ihre Worte, auf eine solche Art von Verliebtheit könne sie verzichten, die mir in Erinnerung blieben, und tatsächlich hatte ich bei aller Verrücktheit und bei allen Schwierigkeiten, die er unübersehbar vor sich hertrug, nicht geahnt, wie verzweifelt Daniel war, und erst durch das, was sie erzählte, wirklich Einblick bekommen. Zwar konnte man ihn in diesen Dingen sicher nicht den Geschicktesten nennen, aber ich hatte bis dahin gedacht, es spiele sich alles in seinem Kopf ab, alles in seiner Phantasie, und es sei genau das Problem, dass es keine Entsprechung in der Wirklichkeit gab und schon gar keine so groteske, wie es diese Anrufe waren. In der Schulzeit hatte er manchmal alle paar Tage von einem anderen Mädchen geschwärmt, wenn er bei mir Bücher ausgeliehen oder sie zurückgebracht hatte, aber sein Schicksal war, dass nicht eine von ihnen etwas davon wusste oder auch nur ahnte. Es genügte, dass er einen Blick auffing, der vielleicht gar nicht ihm galt, ein nicht direkt an ihn gerichtetes Wort, das er dann tagelang hin und her wendete und auf seine tiefere Bedeutung überprüfte, ein wohlwollendes Lächeln, das er auf sich bezog, und ich konnte mir anhören, wie er ein zufälliges Treffen erzwingen oder mit welcher Masche, mit welchem Trick er sich an sie wenden würde, ohne dass es jemals zu etwas geführt hätte. Ich musste ihm Tips geben, ich musste ihm sagen, ob er ihnen Komplimente machen solle oder ob das affig sei, ob sie ins Kino einladen oder ihnen einen Spaziergang vorschlagen
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