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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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eifernde Augen und die roten Wangen eines wohlgenährten Bauernjungen. Der Mund war in ständiger Bewegung und ließ mich an eine fleischfressende Pflanze denken. Die Sonne schien ihn zu irritieren, und er machte eine Bewegung, als hätte sich eine Fliege auf seiner Stirn niedergelassen und er wollte sie wegwischen.
    »Ich weiß, dass er dir in der Zeit ganz und gar ergeben war«, sagte er. »Du hast lange in der Hand gehabt, was aus ihm wird, aber das heißt doch nicht, dass er nicht auch bei mir gut aufgehoben gewesen wäre.«
    Er war in jenem Sommer zweimal an den Fluss hinausgekommen und beide Male wegen Daniel. Dabei tat er die längste Zeit so, als wäre er nur zufällig in der Nähe und schaute sich um. Er ging mit hinter dem Rücken verschränkten Armen um die Mühle, hob da und dort einen Gegenstand auf und spähte buchstäblich in jeden Winkel. Dann führte er mit mir ein langes Gespräch über dies und das, bevor er endlich nach ihm fragte. Es deutete alles darauf hin, dass die zwei Hängematten gerade erst verlassen worden waren und die beiden Jungen sich ganz in der Nähe verborgen hielten, aber er nickte nur, als ich behauptete, ich hätte sie an dem Tag noch nicht gesehen. Davon unbeeindruckt, schlenderte er zum Wasser hinunter, und während sie ihm das eine Mal entwischt waren, liefen sie ihm das andere Mal regelrecht in die Arme. Sie hatten nur ihre Badehosen an, und er schaute von mir zu ihnen und wieder zurück, während er auf Daniel einzureden begann.
    Ich stand weit entfernt, doch der Wind trug jedes Wort heran, und ich konnte mir keine Illusionen machen über den Druck, den er auf ihn ausübte. Es war nicht das erste Mal, dass er ihn herumzukriegen versuchte, aber mitgehört hatte ich noch nie. Er sagte, er hätte ihn lieber an einem anderen Ort getroffen, aber weil er sich in letzter Zeit offensichtlich vor ihm verstecke, sei er gekommen, um noch einmal mit ihm zu sprechen, was er im Herbst machen wolle. Dabei legte er ihm eine Hand auf die Schulter und wartete, bis Daniel, der den Blick gesenkt hatte, ihm in die Augen sah. Erst dann fragte er ihn, ob er sich noch an den Morgen am Toten Meer erinnere, an dem er zu ihm ins Zimmer gestürzt sei, und was er ihm da anvertraut habe.
    »Keine Angst, es drängt dich niemand, aber wenn es stimmt, dass du in der Wüste den Ruf vernommen hast, solltest du nicht zögern und ihm mit ganzem Herzen folgen«, sagte er. »Es hängt nur an dir, ob du dein Leben gewinnst oder verlierst.«
    Er trug zwar keine Soutane und hielt auch kein Kreuz in der Hand, aber hoch aufgerichtet, wie er vor dem leichtbekleideten Jungen stand, hätte es eine Szene im Urwald sein können, eine Parodie auf etwas, das vielleicht irgendwann in einer Vorzeit geschehen war, jedoch unmöglich jetzt geschehen konnte.
    »Betest du eigentlich noch?«
    Ich hatte Daniel bis dahin nie derart voller Unbehagen erlebt und fand, es passte ganz und gar nicht zu ihm, so wie er mit hängenden Schultern dastand und den Blick wieder gesenkt hielt.
    »Ich bete noch«, sagte er schleppend und hätte ohne Zweifel auch das Gegenteil sagen können. »Ich glaube aber nicht, dass ich gehört werde.«
    »Du wirst gehört, Daniel.«
    »Ich glaube es nicht.«
    »Was sind das für abwegige Ideen. Wenn du betest und daran glaubst, wirst du selbstverständlich gehört, Daniel. Versündig dich nicht.«
    Ich hatte den Eindruck, der Junge winde sich unter seiner Hand, aber Herr Bleichert schien den Griff zu verstärken, bis er sich endlich loszureißen vermochte und auf das Haus zulief. Als ich ihm entgegenging, sah ich, dass er am ganzen Körper zitterte. Ich warf ihm ein Badetuch zu, aber er hielt nicht einen Augenblick inne und war schon in der Tür verschwunden, als Herr Bleichert nachkam.
    »Lässt mich der Kerl einfach mitten im Wald stehen. Kaum sind sie aus der Schule, glauben sie, sich nicht mehr benehmen zu müssen. Was für ein Sturkopf.«
    Er wollte an mir vorbei, aber ich versperrte ihm den Weg. Ich bot ihm einen Kaffee an, den er jedoch ablehnte. Dabei sah er mich spöttisch an. Dann blickte er sich noch einmal um und fragte, schon halb im Gehen, aber dennoch so, als hätte es unmittelbar mit dem zu tun, was gerade vorgefallen war, ob wir von dem Unglück gehört hätten, das auf der Bahnstrecke passiert sei.
    »Es hat einen Personenschaden gegeben«, sagte er, und ich verstand im ersten Augenblick nicht, was er meinte. »Offenbar hat sich ein Stück flussabwärts ein Mann auf die Gleise gelegt.«
    Wir

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