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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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aus Istanbul zurückgekommen war, im Grunde aber das ganze Jahr über gedacht, ich käme nicht mehr wirklich zurück. Es heißt, man würde dafür genausolange brauchen, wie man weg gewesen war, aber das ist nicht mehr als ein schöner Spruch, und ich glaube nicht daran. Nach dem Unterricht in der Österreichischen Schule war ich manchmal in der Nähe des Galata-Turms neben einer Gruppe von Touristen stehengeblieben, wenn ich an der Sprache erkannt hatte, dass es sich um Landsleute handelte, und es war jedesmal ein Schauder des Glücks gewesen, ganz und gar irrational, dass ich mich nicht zu erkennen geben musste, dass ich jederzeit entkommen konnte und dass ich nicht einer von ihnen war. Ich weiß nicht, ob ich vorher nur kein Ohr dafür gehabt habe oder ob es der Vorbote eines aggressiveren politischen Klimas war, aber nach meiner Rückkehr wurde auf einmal allenthalben von Heimat gesprochen, und wir Lehrer waren selbstverständlich angehalten, es auch mit unseren Schülern zu tun. Wir sollten ihnen sogenannte Hilfestellungen zum Thema geben, und das führte zu meinem ersten Konflikt mit dem Elternverein. Ich hatte gesagt, Heimat sei da, wo einem das Vertraute peinlich erscheine und das Peinliche vertraut, und abgesehen davon, dass es ein bisschen bonmothaft klingt, kann ich nach wie vor dazu stehen. Man hatte mich gebeten, mich genauer zu äußern, und ich hatte mich geäußert, und daran musste ich jetzt wieder denken. Mich hatte eine reißende Sehnsucht nach Istanbul oder vielleicht eher nach meinem Wegsein gepackt, und ich hätte in dem Augenblick auch sagen können, Heimat sei da, wo man die Sprache nicht versteht. Ich war ohne ein Wort Türkisch ins Land gekommen, und meine Sprachkenntnisse konnten höchstens bruchstückhaft genannt werden, als ich wieder ging, aber über ein paar Brocken verfügte ich immer noch, Versatzstücke, die sich leicht in den Wind sprechen ließen.

2
    Ich hatte das Verhältnis zwischen Daniel und mir zu wenig aus seiner Sicht betrachtet. Als der Ältere und als Lehrer musste ich mir die Frage gefallen lassen, was ich von ihm wolle, und tatsächlich brachte erst Herr Bleichert mich darauf, die andere Seite mehr zu bedenken. Der Satz, er habe Daniels Manuskript als Zeichen seiner Zuneigung zu mir gelesen, ging mir nicht aus dem Kopf. Vielleicht hatte ich den Jungen von Anfang an unterschätzt, wenn ich ihm Berechnung unterstellte, sooft er mich um Buchempfehlungen bat. Lange hatte ich geglaubt, er tue es nur, um mir zu imponieren, er frage mich, was er lesen solle, um mich zu beeindrucken, wie er Dr. Prager mit seinen Rechenkünsten beeindruckt hat und für Herrn Bleichert aus der Bibel zitierte, und wenn er las, las er nicht, weil es ihn interessierte, sondern weil er wollte, dass ich es wahrnahm. Dazu brauchte ich mich nur an die Gespräche zu erinnern, die wir manchmal gehabt hatten, wenn er mir ausgeliehene Bücher zurückbrachte. Ich hatte sie oft als mühsam empfunden, als gestellt, geradeso, als unterzöge er sich selbst einer Prüfung und wünschte sich, dass ich ihm bewundernd dabei zuschaute.
    Beim Wiederlesen des Manuskripts fragte ich mich, wie ich das andere übersehen konnte. Stand da nicht, wie sehr er sich am Abend immer freue, am nächsten Tag wieder an den Fluss hinauszufahren? Außerdem waren es ja am Anfang die beiden Jungen gewesen, die dort von sich aus auftauchten, ich hatte sie nicht eingeladen, im Gegenteil, ich gab ihnen zu verstehen, dass ich lieber allein wäre, und sie setzten sich darüber hinweg. Wenn ich ernst nahm, was Daniel schrieb, beobachtete er mich, sooft ich vor dem Haus saß und, ein Buch im Schoß, in der Nachmittagssonne eingenickt war. Er schaute mir zu, wenn ich zum Wasser hinunterging und ein paar Züge schwamm. Entweder er blieb sitzen, oder er überlegte, ob er mir folgen solle, und kam gleich darauf in raschen Schritten nach, schlenderte neben mir her und sprang kopfüber in einen der Gumpen am Rand, die vom Flussbett abgetrennt waren und nur bei Hochwasser geflutet wurden. Die tiefsten waren kaum einen Meter tief, aber er schaffte es mit einem flachen Sprung, dass sein Körper sanft über den Grund glitt, ohne dass er sich verletzte, und dann stand er wartend in der schlammigen Brühe, über der es von Insekten nur so schwirrte, und streckte mir die Hände entgegen. In der Sonne glitzerten die Tropfen auf seiner Haut, und ich weiß noch, dass ich jedesmal stehenblieb, ihn anschaute und wartete, bis er die Arme wieder sinken ließ,

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