Eine Ahnung vom Anfang
schüttelte. Obwohl ich solche Sätze selbst nicht mochte und wusste, dass ich mich anhörte wie ein altgedienter Studienrat, der an sie glaubte, war es etwas anderes, von ihm darauf hingewiesen zu werden. Er sagte, das sei ihm zu pessimistisch, und natürlich musste er das sagen, weil er in fast jeder Klasse einen Jungen hatte, den er so lange traktierte, bis er nicht mehr wiederzuerkennen war oder sein Heil in der Flucht suchte.
»Wir haben unsere Möglichkeiten«, sagte er, ohne seinen Zynismus länger zu verbergen. »Es gibt keinen Grund, unser Licht unter den Scheffel zu stellen.«
Er stand auf und lehnte sich ans Fenster, schaute jedoch nicht hinaus auf den Sportplatz, wo die Mädchen immer noch sprangen und von neuem ihre Schreie zu hören waren, sondern nahm mich in den Blick.
»Wie sagt Pascal?«
Er breitete seine Arme aus und parodierte sich selbst.
»Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will es, dass, wer einen Engel aus ihm zu machen versucht, ein Tier aus ihm macht.«
Ich hatte genug von dem Spiel, und als er mir auch noch mit einem Loblied auf den pädagogischen Eros kam, sagte ich es ihm. Er konnte nicht wissen, dass mir das Gespräch, das er mit Daniel draußen am Fluss geführt hatte, bekannt war, aber er musste mich für sehr naiv halten, wenn er glaubte, dass ausgerechnet er mir etwas vormachen könne. Das Gute zu wollen, was auch immer daraus folgte, war sein Metier, und ich sah noch vor mir, in welcher Herrlichkeit er damals seinen Abgang inszeniert hatte. Er war erhobenen Hauptes davongeschritten, die Hände einmal mehr hinter dem Rücken verschränkt, wie er es zu tun pflegte, wenn er seine Stellung hervorkehren wollte, und bei der Erinnerung, wie er noch in der Niederlage versuchte, sich als Sieger zu geben, musste ich lachen.
Ich hatte mit Herrn Bleichert nie über den Reverend gesprochen, aber wenn er es nicht ohnehin schon wusste, hätte ich ihm jetzt am liebsten gesagt, dass Daniel sich nur wenige Tage später von ihm hatte retten lassen. Es brauchte auch nicht viel Phantasie, eine Verbindung zwischen diesem ganz und gar grotesken Ereignis und Herrn Bleicherts eigenem Fehlschlag bei dem Jungen herzustellen. Ich hatte lange keine Erklärung dafür gehabt, aber jetzt dachte ich, Daniel habe es ihm zum Trotz getan und dem Reverend in einer Travestie das gegeben, was Herrn Bleichert verwehrt geblieben war, um ein für alle Mal die Möglichkeit in sich auszulöschen, doch noch der Versuchung zu erliegen und seiner Werbung nachzugeben.
Um so absurder war dann der weitere Verlauf unseres Gesprächs, obwohl ich mich über die Anspielungen, die er machte, nicht einmal mehr ärgerte. Ich fragte mich nur, ob er vollkommen blind für den eigenen Anteil war und wie weit er sich noch vorwagen würde, als er anfing, er müsse mir natürlich nicht sagen, dass es immer schon Geschichten gegeben habe, was ich mit den Jungen draußen am Fluss gemacht hätte. Es war die alte Leier, und ich war froh, als es zur Pause klingelte, und beeilte mich aufzustehen, kaum dass die ersten Kollegen hereindrängten und ich mich in dem Durcheinander ohne Aufsehen davonmachen konnte.
Ich hätte noch eine Stunde gehabt, aber ich entschied mich, sie ausfallen zu lassen. Es wäre genau in der Klasse gewesen, in der ich über die Bombendrohung gesprochen hatte, und mir gingen noch einmal die Worte durch den Kopf. Ich hatte tatsächlich gesagt, dass es manchmal gerade die Sehnsucht nach Unschuld und Reinheit sei, die einen dazu bringe, Schuld auf sich zu nehmen, und bei der Vorstellung, wie der eine oder andere Schüler das zu Hause am Mittagstisch erzählte, konnte ich mir eine gewisse Befriedigung nicht verhehlen. Es war ein Fehler, aber ich meldete mich nicht ab. Dabei hätte ich nur sagen müssen, dass ich mich unwohl fühlte, und ich wäre entschuldigt gewesen, aber ich ging und dachte nicht einmal daran. Ich war sicher, dass ich beobachtet wurde, als ich die Straße vor der Schule hinaufschlenderte. Die meisten Unterrichtsräume schauten nach vorn hinaus, und obwohl fast an der ganzen Fassade die Jalousien heruntergelassen waren und ich dahinter nichts sehen konnte, malte ich mir aus, wie sich die ersten Neugierigen an den Fenstern drängten und wie sich langsam herumsprechen würde, dass ich einfach so gegangen war.
Das Gefühl kannte ich, ein Gefühl der Verantwortungslosigkeit, ein Gefühl, vollkommen schwerelos, allem enthoben zu sein. Ich hatte mindestens in den ersten Monaten, nachdem ich
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