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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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vorstellen, dass er nach so vielen Jahren seine Meinung geändert haben sollte. Damals hatte ich ihn beschwichtigt, dass wir ohnehin nicht über die Anfänge hinauskämen und es wahrscheinlich bei den Proben bliebe, aber er bestand darauf, dass es nach all den Mühen wenigstens einen Versuch vor Publikum geben müsse. Er hatte bei seinem Besuch in Istanbul die Aufführung eines orientalischen Stücks gesehen, bei der die Schauspieler hinter einer Leinwand agierten, die von einem Scheinwerfer angestrahlt wurde, und war immer noch so begeistert davon, dass er mir vorschlug, darauf auszuweichen, wenn es gar nicht anders gehe. Ich wehrte mich zuerst dagegen, aber dann spannte ich mit mehreren Bahnen weißen Packpapiers einen Schirm auf, und es half tatsächlich, wenn man nur die Schatten sah und das ganze Spiel damit in eine Zwischenwelt verlagert wurde, in der ideale Wesen voller Inbrunst ideale Sätze in die Luft trompeten konnten, die in Wirklichkeit kein Mensch jemals in den Mund nehmen würde.
    Ich ging ins Konferenzzimmer, und wenn ich schon bei der Begegnung mit Frau Pfeifer gedacht hatte, sie müsse sie absichtlich herbeigeführt haben, kam es mir jetzt wie eine Drohung vor, dass Herr Bleichert wieder an seinem Tisch saß und mir zunickte, als hätte er auf mich gewartet. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich glaubte, in seinem Gesicht einen Anflug von Spott wahrzunehmen. Ich setzte mich von ihm abgewandt hin und schaute hinaus auf den Sportplatz, wo im Strafraum des vorderen Tores eine Gruppe von Mädchen Hochsprung übte und eine nach der anderen sich aus der Reihe der Wartenden löste, ein paar federnde Schritte Anlauf nahm und mit eingezogenem Rücken in die Matte flog. Obwohl die Fenster geschlossen waren, konnte ich ihre Schreie hören, und es gelang mir nicht, meine Gedanken zu ordnen, weil ich seine Anwesenheit hinter mir spürte. Dass ich ihn mit meinem Verhalten brüskierte, kümmerte mich nicht. Unser Umgang war über die Jahre immer ruppiger geworden, und wenn wir keine Zuschauer hatten, kam es vor, dass wir ohne zu grüßen aneinander vorbeigingen. Seit Dr. Prager pensioniert war, war Herr Bleichert der einzige Lehrer, der immer ein oder zwei Schüler hatte, die er auf diese penetrant missionarische Weise für sich zu gewinnen versuchte. Dazu kam, dass er seit einiger Zeit im Haus des Direktors ein und aus ging, und wer immer davon erzählte, setzte ein vielsagendes Lächeln auf, wenn er ihn den Seelsorger von dessen Frau nannte, die sich ganz den Fängen der Kirche ergeben habe.
    »Ich kann mir vorstellen, worüber du mit dem Alten gesprochen hast«, sagte er jetzt. »Du fragst dich sicher, woher er Daniels Manuskript hat.«
    Vor Genugtuung klang seine Stimme ganz satt.
    »Der Bub hat es mir nur einen Tag nach dir gegeben.«
    Er war aufgestanden, um die Tische zwischen uns herumgegangen und hatte sich neben mich gesetzt, und ich bemühte mich, keine Regung zu zeigen.
    »Dann hat Herr Aschberner es also von dir?«
    Ich schaute weiter hinaus auf den Sportplatz, während er näher rückte und meinem Blick folgte und sich dabei so weit vorbeugte, dass er mit dem Haaransatz das Fenster berührte.
    »Es steht ja nichts drin, was dich kompromittiert«, sagte er. »Der Bub ist manchmal ein bisschen forsch, aber ich habe es als Zeichen seiner Zuneigung zu dir gelesen.«
    Er schien unentscheiden, ob er lachen sollte oder nicht.
    »Es gibt eine Intensität darin, die einen vergessen lässt, dass es sich um einen Roman handelt. Offen gestanden, habe ich ihm das gar nicht zugetraut. Andererseits überrascht er einen immer von neuem.«
    Ich hatte mich nie an dem Wettkampf um Daniel beteiligt, den er all die Jahre mit Dr. Prager im Konferenzzimmer austrug, und wollte mich auch jetzt nicht von ihm mit hineinziehen lassen, aber es war schon geschehen.
    »Du siehst ihn noch?« sagte ich verzagter, als mir recht war. »Ich habe gedacht, du hättest nach dem Sommer damals keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt.«
    Ich hatte das noch gar nicht ausgesprochen, als ich schon seinen triumphierenden Ausdruck sah und hörte, wie er die Luft mit einem Schmatzen zwischen den Zähnen einsog.
    »Warum sollte ich keinen Kontakt zu ihm gehabt haben?«
    Er schob seinen Kopf so penetrant in mein Blickfeld, dass ich nicht mehr an ihm vorbeischauen konnte, und ich staunte wieder über dieses Gesicht, eine unentschiedene Zusammensetzung aus nicht passenden Teilen, eine winzige Nase, auf der eine randlose Brille saß, blaue,

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