Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
Vom Netzwerk:
Wohnzimmer und begann ohne Umschweife zu sprechen. Er trug ein Sakko zu seiner Trainingshose, war unrasiert und machte einen verwirrten Eindruck, wie er ganz gegen seine Art breitbeinig in seinem Fauteuil saß und mich kaum zu Wort kommen ließ.
    »Das hat alles keinen Sinn«, sagte er, ohne mir zuzuhören, als ich ihn umzustimmen versuchte. »Wohin auch immer ich blicke, ich sehe nur Leute mit leeren, vergeudeten Leben, die sich mit sinnlosen Dingen beschäftigen, leere, sinnlose Gespräche führen und darauf warten, dass sie von dem Unsinn erlöst werden und sterben.«
    Es hätte eine von unseren Diskussionen werden können, wäre nicht seine Verzweiflung gewesen, aber so wusste ich, dass es diesmal anders war, und sah ihn abwartend an, als er fortfuhr, er müsse aus allem heraus. Damit kippte er den Rucksack mit Büchern, den er vor sich abgestellt hatte, auf den Teppich, als wären es lauter Beweisstücke für die Vergeblichkeit, von der er sprach, und behauptete, sie gehörten mir, er habe vergessen, sie zurückzugeben. Ich sagte, dass ich keines vermisste, aber er bestand darauf und händigte mir eines nach dem anderen aus, und ich nahm sie ohne hinzusehen und legte sie auf den Abstelltisch neben dem Sofa.
    »Aus allem heraus?« sagte ich schließlich. »Wohin willst du?«
    Er zögerte nicht mit der Antwort.
    »Irgendwohin, wo es einen Sinn ergibt.«
    Doch kaum hatte er das ausgesprochen, schien er auch schon darüber zu lachen. Ich kann nicht sagen, was ihn von einem Augenblick auf den anderen umschwenken ließ, aber wenn er gerade noch grüblerisch verquält gewirkt hatte, hellte sich seine Stimmung plötzlich auf. Es war, als könnte er sein eigenes Lamentieren nicht mehr hören und beeilte sich, es wegzuwischen.
    »Ach was, vergiss das mit dem Sinn. Einen solchen Ort gibt es nicht. Für den Anfang würde es schon reichen, wenn ich ein paar Tage in dein Haus könnte.«
    Er schien selbst glücklich über die Wendung, ob ihm das gerade erst eingefallen war oder ob er die ganze Zeit schon darauf abgezielt hatte.
    »Ich könnte fischen und jagen.«
    »Wie willst du das machen?« sagte ich, überrascht von dieser unerwarteten Leichtigkeit, der ich nicht traute. »Mit Pfeil und Bogen?«
    Er hatte immer kokettiert, zwei linke Hände zu haben, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er ein Gewehr bediente, ganz abgesehen davon, wo er es hernehmen sollte.
    »Außerdem steht der Winter vor der Tür.«
    Ich hatte das nur so dahingesagt, aber er merkte sofort auf.
    »Das stört mich nicht«, sagte er. »Der Winter ist meine Jahreszeit. Solange ich mich erinnern kann, war ich gern draußen im Schnee. Ich bin im Winter geboren.«
    Ich wusste, er war ebenso unsinnig wie grundlos stolz auf die Geschichte seiner Geburt, ob sie nun stimmte oder Teil seiner Privatmythologie war. Er hatte mir einmal erzählt, dass er in einer Lawinennacht mitten im Nirgendwo zur Welt gekommen sei, und wahrscheinlich war das der Grund für die Euphorie, in die er sich jetzt hineinsteigerte. Er malte sich aus, wie es wohl wäre, den ganzen Tag im Freien zu verbringen, wie er Wildspuren folgen oder sich im Wald auf die Lauer legen und ein Loch in die Eisdecke des zugefrorenen Flusses hacken würde. Er könnte Fallen aufstellen und schauen, was aus den Vorräten geworden war, die er damals im Sommer mit Christoph angelegt hatte. Sie hatten eines Tages an einer Stelle hinter dem Haus ein paar Dutzend Konservendosen vergraben, mit Ablaufdatum irgendwann im nächsten Jahrtausend, aber nicht weil sie dachten, sie könnten sie einmal brauchen, sondern weil ihnen der Gedanke gefiel und ihr Versteck erst ein richtiges Versteck wäre, wenn sie sich mit solchen Spielen wenigstens in ihrer Phantasie von der Außenwelt abgeschottet hätten. Ich hatte schon damals gedacht, dass es nicht die Wildnis war, die ihn in diese Erregung versetzte, sondern nur seine Idee von der Wildnis, und das waren immer noch meine Bedenken, wenn ich ihm bei seinem Schwärmen zuhörte.
    »Ich glaube, du hast keine Vorstellung, wie es da draußen ist, wenn es erst einmal geschneit hat«, sagte ich. »Dann sind die Wege tagelang nicht geräumt, und es verirrt sich keine Menschenseele dort hinaus.«
    »Um so besser«, sagte er. »Ich will allein sein.«
    Ich sah ihn kopfschüttelnd an.
    »Dazu musst du nicht mitten im Winter in den Wald gehen.«
    »Lass mich doch einfach«, sagte er bestimmt und hätte gleichzeitig nicht passiver sein können. »Ich weiß selbst, was gut für mich

Weitere Kostenlose Bücher