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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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bevor ich auch nur einen Fuß eintauchte. Das Lachen in seinem Gesicht, in diesen Augenblicken, war ein Lachen zuerst aus kindlicher Freude und danach ein Lachen über mich, weil ich mich so zimperlich anstellte.
    Ich hatte immer gedacht, ich sei kaum je mit ihm allein gewesen, doch das stimmte nicht. Natürlich war Christoph in der Regel dabei, aber es gab auch Augenblicke, wo er sich entfernt hatte und außer Sicht- und Hörweite war, und einmal kam Daniel ganz ohne ihn an den Fluss hinaus. Ich weiß nicht mehr, welchen Grund er angab, aber ich erinnere mich, dass er glaubte es begründen zu müssen, und ich erinnere mich an seine Schüchternheit an dem Tag und wie er gespreizt sagte, mir bleibe nichts anderes übrig, als mit seiner Gesellschaft vorliebzunehmen, und so tat, als bräche er in der nächsten Sekunde auf. Das war drei Tage nachdem ich hinter ihm hergelaufen war und ihn umschlungen hatte, und ich wusste selbst nicht, wie mit ihm umgehen. Wir saßen lange schweigend in der Sonne, sprachen über Belangloses, und allein dass er so wortkarg war und nicht die erste Gelegenheit nützte, um eines seiner Gespräche zu beginnen, wie er es meistens getan hatte, wenn Christoph gerade nicht in der Nähe war, zeigt die Besonderheit der Situation. Denn sonst hatte er oft von einem Augenblick auf den anderen das Thema gewechselt, worum auch immer es gerade noch gegangen war, und er hatte mich im Handumdrehen gefragt, wo und in welcher Zeit ich gern gelebt hätte oder ob ich noch lieber überhaupt nicht geboren wäre, hatte eine überdrehte Diskussion angefangen, ob ich auch die Meinung teilte, dass der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik genüge, um die notwendige Endlichkeit der Welt und damit die Nicht-Existenz Gottes zu beweisen, oder hatte sich zu der Anmaßung verstiegen, streng logisch folge allein aus der Tatsache, dass bislang alle Menschen gestorben seien, durchaus nicht, dass auch er sterben werde.
    Leider habe ich mir keine Notizen gemacht, aber in seiner Unduldsamkeit durfte es nur das Wesentliche sein, und es waren die verdrehtesten Volten, in die er sich stürzte. Oft bekam ich den Eindruck, er hätte am liebsten eine Liste vorgelegt, um sie mit mir abzuarbeiten und bloß nicht Zeit mit Trivialitäten zu verplempern, und das war auch sein Lieblingswort, »trivial«, ein Wort, das die Mathematiker verwenden, wenn alles klar ist und es nichts zu beweisen gibt. Auffallend war sein gestörtes Vertrauen in die Realität, waren seine Zweifel, ob er einen Platz darin finden würde oder, genauer, ob es sich lohne, einen zu finden oder überhaupt finden zu wollen, oder ob es nicht klüger sei, von vornherein auf Flucht zu setzen. Dabei ging es nur scheinbar darum, was er nach dem Sommer anfangen solle, auch wenn er die größte Sorgfalt darauf verwendete, jede Möglichkeit, die ihm einfiel, als unmöglich zu unterlaufen. Studieren? Irgendwann einen Beruf haben, eine Frau und vielleicht Kinder? Morgens zur Arbeit gehen und am Abend nach Hause zurückkehren wie in einer Vorabendserie? War da nicht besser die Wüste? Es folgten Diskussionen, die er um der schieren Diskussion willen anzettelte, naiv und hochtrabend, geradeso, als wäre er der erste, der darauf verfiel. Dabei war es in diesem Alter normal, sich über all das Gedanken zu machen, und er befand sich in guter Gesellschaft. In fast jeder Klasse gab es die Steppenwolf -Leser und die Siddhartha -Leser, die auf der Suche nach sich selbst für eine Weile keinen Boden mehr unter den Füßen hatten und von denen sich manche noch Jahre danach auf eine Pilgerreise nach Indien begaben, und wenn er herausragte, dann vielleicht nur, weil Indien in seiner Welt keine Rolle spielte und verlorenes Paradies und gelobtes Land ein und dasselbe für ihn waren.
    Die Zuspitzung kam mit dem Abbruch seines Studiums. Er hatte sich schließlich für Mathematik entschieden. Ich erinnere mich noch, wie er in der für ihn üblichen Mischung aus Pathos und Ironie sagte, das sei die Sprache Gottes, und wenn er begreifen wolle, wodurch alles zusammengehalten werde, könne er gar nicht genug davon verstehen. In Wirklichkeit war es wohl eher seine Vorliebe für das Abstrakte, die ihn dahin brachte, vielleicht auch ein Versprechen von Wahrheit, das er der Auflösung aller Gewissheiten entgegensetzen konnte, und um so größer schien am Ende die Krise. Es war mitten in der Woche, als er bei mir klingelte, und als ich ihm überrascht öffnete, ging er wortlos an mir vorbei, setzte sich ins

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