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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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später die gleiche Fahrt mit seiner Mutter machte. Sie hatte erfahren, dass er draußen am Fluss war, und wollte, dass ich sie zu ihm hinausführte. Ich hatte sie davor ein einziges Mal mit ihm zusammen gesehen. Das war auf dem Fußballplatz gewesen, nach meiner Rückkehr aus Istanbul, als ich die Jugend trainierte und Daniel, noch vor unserer ersten Begegnung in der Schule, ein- oder zweimal beim Training aufgetaucht war. Sie hatte ihn abgeholt und ein paar Worte mit mir gewechselt, während er verlegen neben ihr stand und die Hand abwehrte, mit der sie ihm über das Haar strich. Er errötete und zog sie mit sich weg, als sie mich achtzugeben bat, dass er sich nicht überanstrenge. Sie sagte, er habe Asthma, und das war auch jetzt wieder das erste, wovon sie sprach, wenngleich sie vor Erregung nur ein Stammeln zustande brachte und in einem fort wiederholte, er sei zu schwach für solche Eskapaden und die Nächte im Freien würden ihn umbringen.
    Auf der ganzen Fahrt kam ich kaum zu Wort, weil sie immer wieder begann, mir Vorwürfe zu machen, und auf der Rückfahrt weinte sie. Wir standen noch auf dem Parkplatz, wo ich das Auto abgestellt hatte, als sie sich schon eine Zigarette anzündete und rauchte, und währenddessen liefen ihr lautlos Tränen über die Wangen. Ich hatte sie mit Daniel allein gelassen und war zum Wasser hinuntergegangen, um dort zu warten, aber er weigerte sich, mit ihr zu sprechen, und jetzt bat sie, ob nicht ich es noch einmal versuchen könne. Sie kurbelte das Fenster auf ihrer Seite herunter und wedelte mit beiden Händen den Rauch hinaus, und mit der Kälte kam diese fast körperlich spürbare Stille herein, die ich immer nur am Fluss wahrzunehmen glaubte. Dann wandte sie mir ihr Gesicht zu, und ich sah, dass sich in der einbrechenden Dunkelheit schon die Konturen zu verlieren begannen.
    »Sie sind der einzige, der ihn noch erreichen kann«, sagte sie, als sie ein wenig ruhiger geworden war, aber immer noch lautlos vor sich hin weinend. »Ihnen vertraut er.«
    Ich zweifelte, ob das stimmte. Dazu genügte es, daran zu denken, wie er an mir vorbeigesehen hatte, als ich mit ihr vor dem Haus aufgetaucht war. Er saß nicht weit von der Veranda auf dem Findling, mit dem ich mich bei meinen ersten Aufräumarbeiten auf dem Grundstück so sehr abgemüht hatte, und rührte sich nicht, aber an der Art, wie er in sich gekrümmt war, als wäre er mitten in der Bewegung erstarrt, konnte ich alles ablesen. Es kam mir wie ein Totstellreflex vor, als ich ihm eine Hand auf die Schulter legte, seine ganze Körperhaltung Abwehr, als hätte ich ihn hintergangen, und natürlich verweigerte er auch mir jedes Wort.
    Deshalb machte ich seiner Mutter auch keine großen Hoffnungen. Ich ertrug ihre abwechselnd still duldende und gleich wieder aufbrausende Anwesenheit neben mir im Auto fast nicht mehr und wäre am liebsten ausgestiegen und ziellos in die Nacht gelaufen. Einen Augenblick musste ich gegen den Impuls ankämpfen, ihr etwas Grobes an den Kopf zu werfen, war jedoch sofort wieder die Umgänglichkeit in Person.
    »Am besten warten wir ein paar Tage und schauen, was passiert«, sagte ich. »Wenn wir Glück haben, ergibt sich alles von allein.«
    Ihr Nein kam so abrupt, dass sie sich im nächsten Augenblick entschuldigte, sie wolle mich nicht anherrschen.
    »Das ist zu lange«, sagte sie dann mit einer plötzlichen Sanftheit, die ihre Stimme rauh und voller Sehnsucht klingen ließ. »Wie soll das gehen?«
    »Wir sehen, ob er nicht von selbst zurückkommt.«
    »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Ich habe Angst.«
    Sie war wieder in einen härteren Ton verfallen.
    »Ich habe Angst«, wiederholte sie, und ich konnte das Zucken ihrer Lippen sehen, das sie vergeblich unter Kontrolle zu bringen versuchte. »Er war schon als Kind merkwürdig, aber so habe ich ihn noch nie erlebt.«
    Ich erinnere mich, wie sie dann von seiner Verschlossenheit und Unnahbarkeit sprach, aber ich weiß nicht mehr, wie sie darauf kam zu behaupten, ich sei wie ein Vater für ihn. Eine Weile hatte ich ihr nur halb zugehört, und als sie das sagte, schrak ich auf. Wir standen immer noch auf dem Parkplatz, und ich schaute auf die vereinzelten Lichter des Dorfs in der Ferne und, etwas näher, die von der Neubausiedlung und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass es mir kaum gelang, meine plötzliche Panik niederzuhalten.
    »Er hat immer von seinem Vater geschwärmt«, sagte ich schließlich. »Ich habe keinen Ehrgeiz, seine Stelle

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