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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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nicht zu fragen. Wenn überhaupt, erzählte er von seinen Tagen am Fluss. Es waren elementare Beobachtungen, welche Spuren er am Ufer finde, dass ein Reh zum Haus gekommen sei und ihn sekundenlang aus nächster Nähe angestarrt habe oder dass er morgens, wenn es ganz still werde, manchmal einen Ton zu hören glaube, von dem er nicht wisse, woher er stammte. Ein Ereignis, möglichst klein, nach dem anderen, ohne dass daraus etwas folgte und ohne dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab. Er neigte sonst nicht zu dieser Wald-und-Wiesen-Sensibilität und zwang sich entweder dazu, oder sie war Ausdruck dessen, was mit ihm passierte. Er hatte mir noch wenige Monate davor die Kontinuumshypothese zu erklären versucht und mit Unendlichkeiten verschiedener Mächtigkeit herumjongliert, dass mir Hören und Sehen verging, und schien plötzlich auf alles Argumentieren zu verzichten und nur mehr Staunen, Augenblick und Anbetung sein zu wollen. Ich glaube nicht, dass das freiwillig geschah. Er sprach nicht darüber, aber ich vermute, dass er sich überfordert hat, eine Höhenkrankheit des Denkens, wie ich mir sagte, die ihn dazu zwang, sich des Allereinfachsten zu vergewissern. Ich hatte mir das damals noch nicht klargemacht, aber es war geradeso, als hätte er endlich auch in seinen Gedanken zu der Schlichtheit gefunden, die er in vielem anderen schon lange propagierte und in der er seit seinem ersten Aufenthalt in Israel tatsächlich auch lebte.
    Natürlich erschrak ich. Er war mein bester Schüler gewesen und schien sich über Nacht in einen nicht nur materiell, sondern auch intellektuell anspruchslosen und dauernd lächelnden Simpel verwandelt zu haben. Er hatte in der letzten Klasse Aufsätze geschrieben, in denen seine Lust am komplexen Argumentieren mehr als nur zu erahnen war, die Gründlichkeit, eine Sache immer von einer Seite und noch einer Seite zu betrachten und dann alle Seiten für unzureichend zu erklären, hatte manchmal fast jeden Satz mit Fußnoten versehen, um zu zeigen, woher etwas kam und wohin es gehen könnte, und hätte das jetzt wahrscheinlich als eitles Blendwerk beiseite gewischt. Ich wusste nicht, was er las, wenn er in die Bibliothek ging, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Bücher waren, die eine neue Einfachheit feierten. Er hatte darin immer eine Pose gesehen und gesagt, diese Selbstbeschränkung und Bescheidenheit in der Wahrnehmung, diese Bewunderung des Kleinen und Abseitigen, diese Genügsamkeit, an den Rändern der Welt das Paradies entdecken zu wollen, ja, diese ganze Tiefstapelei sei in ihrer Aufdringlichkeit, sich sichtbar zu machen, die Hochstapelei weniger der Bedürfnislosen als der Unbedarften, und auf einmal ging er einher wie einer von ihnen. Er hatte nie die Bäume voneinander zu unterscheiden gewusst und kannte nun ihre Namen, sprach sie aus, als wäre das Aussprechen ein Schöpfungsakt, der von Mal zu Mal beglaubigte, dass am Anfang das Wort war. Er hatte sich einen Wanderstock geschnitzt, und den Filzhut, den er meistens auf dem Kopf trug, schmückte eine Hahnenfeder oder ein dünner Tannenzweig. Er konnte einen Kiesel am Straßenrand aufheben und ihn drehen und wenden bis zur Verzückung. Der frühe Mond war wie ein nie gesehenes Gestirn für ihn, wenn er mitten im Schritt stehenblieb, um eine Wolkenformation zu betrachten, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn er auf seinem Weg in die Dämmerung ein Lied gesungen hätte wie ein Wandersmann vor hundert Jahren in seiner sprichwörtlichen Frühjahrsmunterkeit.
    Ich weiß nicht, ob man Weltfremdheit lernen kann, ob man sich entschließen kann, von einem Tag auf den anderen die Schrulligkeiten eines dahergelaufenen Zausels anzunehmen, aber am ehesten schien das sein Programm zu sein, Weltfremdheit als Weltvertrautheit, auch wenn er ohne Zweifel bestritten hätte, überhaupt ein Programm zu haben. Damals war mir das noch nicht so bewusst, und in dieser Schlüssigkeit ergibt es sich tatsächlich erst im Rückblick. Ich glaube, ich habe ihn, wenn er bei mir war, jedes einzelne Mal eingeladen, doch über Nacht zu bleiben, aber er ließ sich nicht zurückhalten. Er saß im Wohnzimmer, und wenn ich schon dachte, er werde diesmal vielleicht eine Ausnahme machen und sich überreden lassen, schaute er auf die Wanduhr und sagte, er müsse gehen. Meistens lehnte er es ab, gefahren zu werden, und wenn ich ein Stück mitkam, war ich nicht sicher, ob er es mochte oder ob er lieber allein gewesen wäre. Gewöhnlich bemerkte er

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