Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
Vom Netzwerk:
einzunehmen.«
    Ich dachte nichts weiter dabei, aber wenn ich geahnt hätte, was ich mit diesen Worten heraufbeschwor, wäre ich sicher vorsichtiger gewesen.
    »Was hat er Ihnen von seinem Vater erzählt?«
    »Nur das Beste.«
    »Hat er Ihnen erzählt, er sei tot?«
    »Nein«, sagte ich. »Das höre ich zum ersten Mal.«
    »Hat er Ihnen erzählt, er sei ein Lebemann gewesen?«
    »So kann man es wohl nennen.«
    »Er habe eine Zeitlang in Paris und London gelebt?«
    »Ich glaube, ja.«
    »Er habe die Frauen geliebt? Habe einen Sportwagen besessen? Er habe einmal einen Sechser im Lotto gehabt, aber den Schein im Restaurant liegenlassen und es keinen Tag in seinem Leben bereut?«
    »Ja«, sagte ich. »Aber was soll das?«
    »Es ist alles erstunken und erlogen«, sagte sie. »Ich habe den Buben allein aufgezogen, und er hat seinen Vater gar nicht gekannt.«
    Ich hatte eine unsägliche Geschichte abgewehrt, indem ich mich selbst aus dem Spiel nahm, und mir dafür eine andere eingehandelt, in die sie sich jetzt nicht weniger begierig stürzte, die Geschichte vom abwesenden Vater, die in den großen Legenden längst die vom verlorenen Sohn ersetzt hatte. Ich startete den Motor und fuhr schweigend los, als müsste ich ein paar Kilometer zwischen mich und dieses Gespräch bringen, doch sie redete einfach weiter. Die Details habe ich nicht mehr in Erinnerung, aber ich tue ihr nicht unrecht, wenn ich sage, dass es die immer gleichen waren und dass sie keine Rolle für mich spielten. Es schien ganz und gar absehbar, das Räsonieren, wer wen verlassen habe und wessen Schuld es sei, und während sie sich in Einzelheiten verlor und nach einem Grund und einem Grund hinter dem Grund suchte, warum Daniel so geworden war, dachte ich die ganze Zeit, der Junge saß doch nicht bei minus zehn Grad im Wald und versuchte sich zu beweisen, dass er ohne einen Menschen auskommen konnte, nur weil ein Unglück zwingend aus dem anderen folgt.
    Es wunderte mich dann auch nicht sehr, dass sie sich nach diesem Auftritt nie mehr bei mir blicken ließ. Sie rief zwar noch von Zeit zu Zeit an, aber es genügte ihr, wenn ich sagte, Daniel sei wohlauf, und weiter wollte sie nichts wissen. Ich erzählte ihr, dass er zu mir zum Duschen kam, dass er sich Bücher in der Bibliothek auslieh und dass er sich manchmal für ein paar Stunden in ein Café setzte, weihte sie ein, worüber wir sprachen, auch wenn in Wirklichkeit oft nicht die Rede davon sein konnte, und entwickelte dabei so viel Überzeugungskraft, dass es nach einem richtigen Leben klang. Die ersten paar Male erwähnte ich noch, dass er nach wie vor draußen am Fluss sei, aber dann sparte ich es mir, und es blieb unausgesprochen zwischen uns, ohne dass ich einschätzen konnte, ob es sich in ihrem Kopf damit eher verfestigte oder verflüchtigte.
    In Daniels Manuskript fand sich nichts von alldem. Lange Zeit war ich sicher, dass er in den beiden Wintermonaten im Haus mit der Niederschrift begonnen hat, aber er schrieb nur über unseren Sommer, und als ich es jetzt wieder las, suchte ich vergeblich nach Anzeichen, die etwas von seiner Ausgesetztheit verrieten. Ich stieß nicht auf den geringsten Hinweis, es sei denn, ich wollte sein geradezu wollüstiges Schwärmen von der Schwüle und Wärme jener Tage als Kompensation für die Kargheit und Kälte nehmen, in die er sich manövriert hatte. Es wäre naheliegend gewesen, dass er eine Verbindung herstellte, dass er über seine Situation nachdachte und wenigstens erwähnte, er sei wieder an genau dem Ort, an dem er vor Jahren ein paar Wochen verbracht hatte, wenn auch unter anderen Umständen, aber nichts davon, kein Wort und auch nichts zwischen den Zeilen. Er sah ganz davon ab, und der Winter schien für ihn nicht zu existieren, wenn er sich an unsere Zeit draußen am Fluss erinnerte.
    Ich weiß nicht, was ich damals erwartete, als ein Tag zum anderen kam und er keine Anstalten machte, das Experiment abzubrechen und sein altes Leben wieder aufzunehmen. Vielleicht hätte ich anders reagiert und versucht, es ihm auszureden, wenn ich von Anfang an gewusst hätte, dass es zwei volle Monate dauern würde. Er machte nicht den Eindruck, er sei unglücklich, und wenn er zu mir kam, war höchstens die Ruhe, die er ausstrahlte, befremdlich, die Unbekümmertheit, mit der er manchmal am frühen Nachmittag auftauchte und beim ersten Dunkelwerden wieder verschwand. Anders als früher wirkte er bei diesen Besuchen nicht sehr gesprächig, und ich gewöhnte mir an, ihn

Weitere Kostenlose Bücher