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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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noch so sehr woanders suchen und sich selbst das Land der Freien oder wie auch sonst immer nennen. Ich erinnerte mich, wie enttäuscht sie war, als ich ihr erzählte, dass Daniel sich vom Reverend hatte retten lassen und was das bedeute. Nicht, dass sie in Wehklagen ausbrach, aber sie erwiderte, sie könne sich das nicht vorstellen, es müsse ein Scherz sein, Daniel sei viel zu klug, um auf einen Seelenfänger von der Beschränktheit dieses unseligen Haudegens hereinzufallen. Bereits als er nach Israel gegangen war, nach dem Sommer damals, und den Reverend in Jerusalem getroffen hatte, war ihre Ausflucht gewesen, es handle sich ohne Zweifel um ein Missverständnis, und wann immer ich später seinen Besuch bei ihm in Amerika nur erwähnte, stellte sie ihn schlichtweg in Abrede. Sie versteifte sich auf den Standpunkt, ich könne ihr Fotos zeigen, könne ihr mit Leuten kommen, die es bezeugen würden, oder andere Beweise erbringen, sie würde es ganz einfach nicht glauben, weil sie es nicht glauben wolle, und lieber das Bild von Daniel aufrechterhalten, das sie habe, auch wenn es vielleicht falsch sei.
    Etwas von diesem paradoxen Augenverschließen lag auch in der Ironie, mit der sie jetzt über den Reverend sprach. Ich weigerte mich, darauf einzugehen, und wurde doch von ihr hineingezogen in diese Welt, als sie noch einmal Robert erwähnte und dabei die Formulierung verwendete, dass er sich geopfert habe. Ich unterbrach sie sofort und wollte wissen, was sie damit meine, und sie entschuldigte sich und sagte, es sei das Wort, das die Männer an der Theke gebraucht hätten.
    »Warum sollte Robert sich geopfert haben?«
    »Es klingt furchtbar, aber es ist nur Gerede, Anton«, sagte sie. »Leg dich doch bitte nicht darauf fest, was die Leute in ihrer Unwissenheit alles von sich geben.«
    Ich wehrte mich auch deshalb dagegen, weil es genau das war, was ich selbst dachte, als ich von dem Altar hörte, den Robert angeblich drunten am Fluss aufgebaut hatte, bevor er sich den Lauf des Gewehrs in den Mund steckte und abdrückte. Es war genau das Wort, das mir als erstes in den Sinn kam, und es schauderte mich beim bloßen Gedanken, was für eine archaische Welt darin aufschien. Ich schob es weit von mir, um gar nicht darüber nachdenken zu müssen, und war auch darum entsetzt, dass es mich jetzt noch einmal einholte.
    »Warum um Himmels willen sollte er sich geopfert haben?«
    »Ich weiß nicht, Anton«, sagte sie. »Beruhige dich doch.«
    »Sie haben wirklich gesagt, er hat sich geopfert?«
    »Aber Anton, warum quälst du dich so?«
    »Ich will nur wissen, was sie gesagt haben«, sagte ich, und wenn es mir gerade noch gelungen war, wenigstens vor mir selbst den Anschein von Ruhe zu erwecken, bemühte ich mich nicht mehr, mich zurückzuhalten. »Wenn sie gesagt haben, dass er sich geopfert hat, haben sie dann auch gesagt, wofür oder für wen, oder ist das etwas, das man aus schierer Langeweile oder aus einer Laune heraus einfach tut?«
    Ich kümmerte mich nicht darum, dass ich ungerecht war mit meinem Sarkasmus. Sie konnte nichts dafür, aber meine Hilflosigkeit machte mich wütend. Deshalb wusste ich auch nicht, ob ich nicken oder den Kopf schütteln sollte, als sie sagte, die Männer an der Theke seien überhaupt nur wegen der Verbindung mit dem Reverend und wegen des biblischen »Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Betsaida!« auf die Idee gekommen, mit diesem Wort über Robert zu sprechen.
    »Sie haben gesagt, mit dem ganzen religiösen Scheißdreck muss irgendwann Schluss sein«, sagte sie. »Es kann nicht angehen, dass nach dem Tod deines Bruders deswegen noch einmal ein Unglück geschieht.«
    Dann schwieg sie, und auch ich sagte nichts mehr. Es war jetzt nach elf, bald schon halb zwölf, und draußen klopfte ein Passant an die Tür, der unser Licht gesehen haben musste. Agata ging hin und machte ihm durch das Fenster unmissverständliche Zeichen, dass geschlossen sei, und sie sah, dass ich sie dabei beobachtete. Sie hatte diese Art, an sich hinunterzublicken, als wäre etwas mit ihr nicht in Ordnung, und wenn sie wieder aufschaute, verkehrte sich ihr Ausdruck in Spott und Provokation. In einer der beiden Nächte, die ich bei ihr verbracht hatte, hatte ich den Wunsch geäußert, sie möge mir ein paar Zeilen auf ungarisch vorlesen, und da war mir auch zuerst diese Geziertheit aufgefallen, eine gespielte Geziertheit, und dann mit jedem Satz mehr Selbstbewusstsein und Stolz. Es hatte auf dem Nachtkästchen neben dem Bett zwei oder

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