Eine Ahnung vom Anfang
drei Bücher gegeben, in ihrem spärlich möblierten Dienstmädchenzimmer, und sie hatte sich aufgesetzt und scheinbar wahllos eines genommen und zu lesen begonnen. Ich verstand natürlich kein Wort, aber es war ohne Zweifel auch deswegen einer der Augenblicke, in denen ich in sie verliebt war, eine für mich fast zwingende Kombination, eine fremde Frau mit einer fremden Sprache, nichts als Wohlklang, wenn ich an meine unglücklichen und immer seltener gewordenen Versuche mit den Damen unserer kleinen Stadt und ihre Geheimnislosigkeit und Gewöhnlichkeit dachte. Ich hatte Agata gebeten, nicht aufzuhören, als sie das Buch nach einer knappen Seite wieder weglegen wollte, und sie zögerte kurz, bevor sie mit einem ironischen Beiklang weitermachte. Ich überlegte jetzt, ob ich sie daran erinnern sollte, aber ich scheute die Sentimentalität und ließ es sein. Statt dessen wartete ich, bis sie sich wieder gesetzt hatte, und um die Verlegenheit zu überspielen, die zwischen uns entstanden war, fragte ich nur, ob sie immer noch dasselbe Zimmer habe, und merkte, dass ich bei purer Konversation angelangt war, als sie ja sagte, als würde sie nichts weiter damit verbinden.
Es war an der Zeit zu gehen, aber ich wehrte mich dagegen, als sie den Vorschlag machte, noch an den Fluss hinauszufahren, um uns Gewissheit zu verschaffen. Es drängte mich nichts dazu, einerseits weil es mitten in der Nacht war, andererseits jedoch auch, weil ich damit der Möglichkeit, Daniel könnte wirklich im Haus sein, zuviel Platz eingeräumt hätte. Ich sagte, wir sollten das, wenn überhaupt, eher bei Tageslicht tun, jetzt in der Dunkelheit sei es eine Verrücktheit, und wer weiß, ob nicht vielleicht sogar noch Polizei draußen herumgeisterte, der wir dann unsere Anwesenheit erklären müssten. Sie winkte sofort ab, es sei nur eine Frage gewesen, aber dann reagierte sie, als hätte sie doch mehr erwartet, war kurz angebunden und sparte sich jedes überflüssige Wort, bis wir aufbrachen.
Ich begleitete sie ein Stück, und als ich bei mir zu Hause war, suchte ich nach meinem Exemplar des Buches, aus dem sie mir damals vorgelesen hatte. Es handelte sich um den Roman Ohne mich von Miroslav Krleža, einem kroatischen Autor, der Anfang des vergangenen Jahrhunderts gemeinsam mit Agatas Großvater die Militärakademie in Budapest besucht hatte, und sie hatte das Buch nicht nur mir, sondern auch Daniel später in der deutschen Übersetzung geschenkt, mir mit einer trockenen Widmung, ihm mit dem Wunsch »Tausendundein Leben, von Deiner A.«. Es war eines von Daniels Lieblingsbüchern geworden, wenn nicht überhaupt sein Lieblingsbuch, und als ich den arg mitgenommenen Band jetzt fand, begann ich augenblicklich, noch einmal darin zu blättern, obwohl ich ihn sicher schon ein halbes Dutzend Mal gelesen hatte und mit jeder Wendung der Handlung vertraut war. Ich habe nie richtig verstanden, was Daniel so angezogen hat an der Geschichte eines Mannes, der es schafft, mit zwei oder drei Sätzen, die er bei einer Abendgesellschaft äußert, sein bürgerliches Leben so zu torpedieren, dass er am Ende im Gefängnis und im Irrenhaus landet, und dabei auch noch Lust zu empfinden. Der Arme mag vielleicht die Wahrheit sagen, wenn er den Geschäftsmann, bei dem er angestellt ist, einen Mörder nennt, aber es fiel einem doch schwer, sich mit ihm zu identifizieren, weil er sein Unglück regelrecht sucht, und ich wollte immer noch nicht glauben, dass es vielleicht tatsächlich genau das war, was Daniel daran interessierte. Er hatte gesagt, die Art und Weise, wie dem Helden nach seiner gerechtfertigten Anklage mitgespielt werde, beweise aufs allerschönste, dass der Mensch dem Menschen ein Mensch sei, wie es irgendwo in dem Buch heißt, und das klang nach einem Übermaß an bitterer Lebenserfahrung, wie er es in seinem Alter noch gar nicht haben konnte.
5
Dass etwas von der allgemeinen Anspannung auf Agata übergegriffen hatte, wurde mir klar, als ich am nächsten Tag gleich nach dem Unterricht ins Bruckner ging und sie auf Krleža ansprach. Ich sagte ihr, dass ich in der Nacht darin gelesen hätte, und als ich sie fragte, wie sie darauf verfallen sei, Daniel und mir ausgerechnet dieses Buch zu schenken, horchte sie alarmiert auf. Sie sagte, wegen ihres Großvaters, das wisse ich doch, und erzählte noch einmal, dass der Krleža verehrt habe, wie es damals noch möglich gewesen sei, einen Schriftsteller zu verehren, bevor sie misstrauisch wissen wollte, was mich
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