Eine andere Art von Ewigkeit: Lilith-Saga: 2 (German Edition)
den Boden herab und begannen mit ihren spitzen Schnäbeln, den Kadaver und den Kopf der Taube zu zerhacken. Besonders die Augen hatten es ihnen angetan. Bald war die weiße Taube, die ein paar Augenblicke zuvor noch gelebt hatte, nur mehr ein undefinierbarer Rest von Knochen, Fleischresten und einigen weißen Federn, die der Wind in der Umgebung verteilte.
Immer mehr Raben tauchten auf, schwarz wie die Nacht, das Geräusch ihrer Flügel wurde zu einem rhythmischen Tosen. Elisabeths Penthaus war von einem lebendigen Ring umgeben, der das Sonnenlicht absorbierte und ihre Terrasse in ein unwirkliches Grau tauchte. Das Krächzen der Vögel erfüllte die Luft.
Elisabeth war zufrieden. Sie würde mit Viktor sprechen, bevor dieser zum zweiten Mal in die Träume von Lilith eindrang. Sie hatte wichtige Informationen, die sie ihm mitteilen musste.
4
Behutsam öffnete ich die Klammern des verrutschten Verbandes. Mit angehaltenem Atem wickelte ich ihn ab und legte die Wunde frei. Sie blutete zwar, aber erleichtert stellte ich fest, dass es lange nicht so schlimm war, wie ich befürchtet hatte.
„Ist die Verletzung aufgebrochen?“, fragte Johannes.
„Der Riss ist nur oberflächlich. Es blutet kaum mehr. Die Heilung geht gut voran. Ich denke, in drei, vier Tagen brauchst du keinen Verband mehr.“
„Toll“, kommentierte er gleichgültig. Meine positive Nachricht schien keinerlei Bedeutung für ihn zu haben.
Ich verarztete ihn sorgfältig und schloss sein Hemd. Dann kümmerte ich mich um seine Kopfwunde und tupfte ihm das halb eingetrocknete Blut von der Stirn.
„Ich habe es probiert“, sagte er, während ich arbeitete.
Ich zögerte minimal, bevor ich ihm den Wundpuder leicht über die Platzwunde streute.
„Ich musste doch einmal anfangen. Ich musste doch versuchen, aufzustehen.“
„Vielleicht ist es zu früh“, meinte ich leise.
Johannes sah mich nicht an. „Ja, vielleicht ist es wirklich zu früh. Vielleicht aber…“ - er beendete seinen Satz nicht.
Ich verpasste ihm noch ein Pflaster, drehte sein Gesicht zu mir und musterte ihn lange und prüfend. Stumm erwiderte er meinen Blick. Sein Jungenlächeln kam zurück, aber es war nicht, wie gewöhnlich. Es war unecht, bitter und verhärmt.
Ich setzte mich zu ihm auf den Schoß und wollte ihn, wie ich es immer tat, küssen. Er drehte seinen Kopf weg.
„Das ist jetzt keine gute Idee, Lilith.“
Ich stand auf und blieb vor ihm stehen. Er blickte mich nicht an, als er mit mir sprach. Seine Stimme war betont sachlich.
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich heute etwas für mich bin. Ich fühle mich doch sehr erschöpft.“
Ein Gefühl der Kälte ballte sich in mir zusammen, doch ich ließ mir nichts anmerken. „Das verstehe ich, Johannes. Du kannst dich ausruhen und kommst einfach später zu uns in den Garten“, antwortete ich stattdessen.
Er atmete tief ein. „Nein, ich denke nicht. Ich bin wirklich müde. Ich werde heute früh ins Bett gehen.“
„Wenn du meinst. Aber falls du dich anders entscheiden solltest, würde ich mich freuen“, versuchte ich es erneut.
Ich betrachtete sein verschlossenes Profil. Verzweiflung machte sich in mir breit, die sich noch verschlimmerte, als er seine nächsten Worte sprach.
„Rechne lieber nicht damit. Ich habe mir in der letzten Zeit vielleicht etwas zu viel zugemutet. …Und ich glaube, ich brauche den Abend zum Nachdenken.“
Mir fiel keine Erwiderung ein. Ich stand hilflos im Raum, während Johannes seinen Kopf weiter abgewandt hielt. Ich verließ ihn, und bis ich die Tür schloss, blieb er in der gleichen Haltung zurück.
5
„Wie war’s mit ihm?“, fragte Asmodeo. Er saß auf der Brüstung unserer Terrasse und war gerade dabei, die Hundeleine von Mozarts Halsband zu lösen.
Ich schüttelte den Kopf.
„Ist seine Wunde aufgebrochen?“
Ich brauchte eine Weile, bis ich antworten konnte. „Das nicht, aber er ist entsetzlich niedergeschlagen.“
Asmodeo schluckte schwer. „Er hat heute versucht, zu laufen. Er hat es mit aller Gewalt probiert. Und er ist gescheitert.“
„Das kann er doch aber nicht erzwingen!“
„Das ist ihm allzu schmerzhaft bewusst geworden. Er hat einen überaus starken Willen, aber heute hat er seine Grenzen erfahren müssen.“
Ich ging vor Asmodeo in die Hocke und ergriff seine Hände. „Kannst du ihm nicht helfen, Asmodeo? Bitte! Gibt es nicht eine Möglichkeit, die…, die dir offen steht?“
Asmodeo schüttelte den Kopf, wobei er mich unverwandt
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