Eine Andere Welt
Minuten gesprochen; der Raum war still geworden. Er grübelte müßig über die Frage nach, ob es nicht ein thermodynamisches Prinzip gebe, wonach Wärme nicht vernichtet, sondern nur übertragen werden kann. Aber die Entropie war unausweichlich.
Er fühlte das volle Gewicht der Entropie auf sich. Er hae sich in ein Vakuum entladen und würde nie zurückbekommen, was er von sich gegeben hae. Es ging immer nur in eine Richtung. Ja, dachte er, das ist bestimmt eins der Grundgesetze der Thermodynamik.
»Hast du ein Lexikon?« fragte er Ruth.
»Wieso, nein.« Unruhe kam in ihr backpflaumenähnliches Gesicht. Backpflaumenähnlich – nein, das war nicht gerecht. Ihr verwi ertes Gesicht, das kam eher hin.
»Woran denkst du?« fragte er sie.
»Nein, sag du mir, was du denkst«, erwiderte Ruth. »Was geht in diesem großen, geheimnisvollen Gehirn vom Alpha-Bewußtseinstyp vor sich?«
»Erinnerst du dich an ein Mädchen namens Monica Buff?« fragte Jason.
»Und ob ich mich an sie erinnere! Monica Buff war sechs Jahre lang meine Schwägerin. In dieser ganzen Zeit hat sie ihr Haar nicht ein einziges Mal gewaschen. Es hing wie wirre, schmierige Zoeln von Hundefell um ihr teigiges Gesicht und den schmutzigen kurzen Hals.«
»Ich wußte nicht, daß du sie nicht magst.«
»Jason, sie klaute. Wenn man seine Geldbörse herumliegen ließ, machte sie sie leer: und sie nahm nicht bloß die Scheine, sondern auch alles Kleingeld. Sie hae das Gehirn einer Elster und die Stimme einer Krähe, wenn sie sprach, was Go sei Dank nicht o vorkam. Wußtest du, daß sie sechs oder sieben, einmal sogar acht Tage lang herumlief, ohne ein Wort zu sagen? O kauerte sie tagelang wie eine kranke Spinne in einer Ecke und klimperte auf ihrer Fünf-Dollar-Gitarre, die sie nie richtig spielen lernte. Na gut, auf ihre ungekämmte, schlampige Art und Weise sah sie hübsch aus, das gebe ich zu. Wenn man was für dicke Hintern übrig hat.«
»Wie hat sie sich durchgeschlagen?« fragte Jason. Er hae Monica Buff nur kurz und durch Ruth gekannt. Aber während dieser Zeit hae er mit ihr eine kurze, überschwengliche Affäre gehabt.
»Mit Ladendiebstahl«, sagte Ruth Rae. »Sie hae diese große geflochtene Tasche, die sie aus Niederkalifornien mitgebracht hae ... Sie pflegte das gestohlene Zeug einfach da hineinzustopfen und seelenruhig aus dem Laden zu gehen.«
»Warum wurde sie nicht erwischt?«
»Sie wurde. Sie wurde zu Geldstrafe verurteilt, und ihr Bruder machte die Scheine locker, und so brauchte sie nicht einzusitzen und konnte wieder anfangen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie barfuß die Shrewsbury Avenue in Boston entlangschlenderte und in alle Pfirsiche in den offenen Auslagen der Gemüsegeschäe zwickte. Sie pflegte jeden Tag zehn Stunden damit zu verbringen, was sie ›Einkaufen‹ nannte.« Sie blickte ihn starr an, dann fuhr sie mit gesenkter Stimme fort: »Weißt du, was sie tat, ohne daß sie je erwischt wurde? Sie beherbergte und verpflegte entkommene Studenten.«
»Und dafür wurde sie nie eingelocht?« Die Beherbergung oder Versorgung eines entkommenen Studenten mit Nahrungsmieln kostete zwei Jahre Zwangsarbeit – beim erstenmal. Beim zweitenmal waren es fünf Jahre.
»Nein, sie wurde nie eingelocht. Sie hae da so einen Trick. Wenn sie dachte, daß wieder eine Polizeikontrolle fällig sei, oder wenn sie den Streifenwagen unten halten sah, pflegte sie schnell die Polizei anzurufen und zu sagen, ein Mann versuche in ihre Wohnung einzubrechen. Dann lockte sie den Studenten unter irgendeinem Vorwand aus der Wohnung und sperrte ihn aus, und wenn die Bullen kamen, sahen sie ihn vor der Tür stehen und mit den Fäusten dagegen schlagen, genau wie sie gesagt hae. Darauf schaen sie ihn fort und ließen sie in Ruhe.« Ruth kicherte. »Ich war einmal dabei, als sie einen solchen Anruf machte. So wie sie es schilderte, hae der Mann ...«
»Ich war drei Wochen lang mit Monica liiert«, sagte Jason. »Ungefähr vor fünf Jahren.«
»Hast du während dieser Zeit gesehen, daß sie sich die Haare wusch?«
Er verneinte.
»Und sie trug nie einen Schlüpfer«, sagte Ruth. »Ich kann nicht verstehen, warum ein gutaussehender Mann wie du sich mit einem schmutzigen, schäbigen Monstrum wie Monica Buff einlassen konnte! Ich we e, du bist nicht ein einziges Mal mit ihr ausgegangen; sie stank. Sie badete nie.«
»Hebephrenie«, sagte Jason.
Ruth nickte. »Ja, das war die Diagnose. Ich weiß nicht, ob du es weißt, aber schließlich wanderte sie einfach davon,
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