Eine Andere Welt
und sieh im Arbeitszimmer nach, in der Mielschublade meines Schreibtischs. Dort wirst du in einem Zellophanumschlag ein leicht gestempeltes, genau zentriertes Exemplar der Eindollar schwarz der Trans-Mississippi-Ausgabe finden. Ich wollte sie für meine eigene Sammlung haben, aber du kannst sie für deine nehmen; ich werde mir ein anderes Stück besorgen. Aber geh. Geh und nimm dir die verdammte Marke und kleb sie in dein Album oder mach damit, was du willst. Aber laß mich bei der Arbeit in Ruhe. Ist das ein Vorschlag?«
»Jesus!« sagte Alys mit leuchtenden Augen. »Wo hast du sie her?«
»Von einem politischen Gefangenen, der unterwegs in ein Zwangsarbeitslager war. Er vertauschte sie gegen seine Freiheit. Ich hielt das für eine annehmbare Regelung. Du nicht?«
»Die am schönsten gestochene Briefmarke, die je herausgegeben wurde«, sagte Alys.
»Willst du sie?« fragte er.
»Und ob!« Sie ging zur Tür und öffnete sie. »Wir sehen uns morgen. Aber du brauchst mir nicht so etwas zu geben, um mich zum Gehen zu bewegen; ich wollte sowieso nach Haus und eine Dusche nehmen und ein paar Stunden schlafen. Andererseits, wenn du es möchtest ...«
»Ich möchte es«, sagte Buckman mit Nachdruck, und zu sich selbst fügte er hinzu: Weil ich eine solche goverdammte Angst vor dir habe, weil ich alles an dir so animalisch und irrational finde, und das fürchte ich – selbst deine Bereitwilligkeit, zu gehen. Selbst davor fürchte ich mich!
Warum? fragte er sich, als er die Tür zufallen und ihre Schrie im Korridor verklingen hörte. Schon als Kind fürchtete ich sie. Vielleicht liegt es daran, weil sie in irgendeiner fundamentalen Art und Weise, die ich nicht verstehe, nicht nach den anerkannten Spielregeln spielt. Wir alle haben Regeln; sie unterscheiden sich in dieser oder jener Hinsicht, aber wir alle spielen nach ihnen. Zum Beispiel ermorden wir nicht einen Menschen, der uns gerade eine Gefälligkeit erwiesen hat. Sogar in diesem Polizeistaat – sogar wir halten uns an diese Regel. Und wir zerstören nicht vorsätzlich Gegenstände, die uns kostbar sind. Aber Alys ist imstande, nach Haus zu gehen, die Eindollar schwarz aus der Schublade zu nehmen und mit ihr eine Zigaree anzuzünden. Ich weiß das, und doch gab ich sie ihr; ich bete immer noch, daß sie eines Tages zurückkommen und mit Murmeln spielen wird, wie wir alle es tun.
Aber sie wird es nie tun. Und der wahre Grund, warum ich ihr die Eindollar schwarz anbot, war einfach, weil ich sie zu verlocken suchte, zu Regeln zurückzukehren, die wir verstehen können. Regeln, an die auch wir uns halten. Ich besteche sie, und es ist umsonst, und wir wissen es beide. Ja, dachte er, wahrscheinlich wird sie die Eindollar schwarz anzünden, eine der schönsten jemals erschienenen Briefmarken, ein philatelistisches Prunkstück, das ich in meinem ganzen Leben noch nie zum Verkauf angeboten sah. Nicht mal auf Auktionen. Und wenn ich heute abend nach Haus komme, wird sie mir die Asche zeigen. Vielleicht wird sie eine Ecke unverbrannt lassen, um zu beweisen, daß sie es wirklich getan hat.
Und ich werde sie nur noch mehr fürchten.
Schwermütig seufzend öffnete Buckman die drie Schublade seines großen Schreibtischs und legte eine Tonbandspule in das Abspielgerät, das er dort verwahrte. Lieder für vier Stimmen von John Dowland ... er stand und lauschte einer Weise, die ihm von allen Liedern in Dowlands Lautenbüchern mit am liebsten war.
... denn nun, verloren und verlassen, Sitz ich und seufze, weine, sterbe, In Todesqual und Not ohn‘ End.
Der erste Mensch, dachte Buckman sinnend, der ein Stück abstrakter Musik geschrieben hae. Er nahm die Spule heraus, legte eine andere ein und lauschte voll Andacht der Lachrimae Antiquae Pavane. Aus diesen Wurzeln, so sagte er sich, erwuchsen die späten Streichquartee von Beethoven. Und alles andere. Bis auf Wagner.
Er verabscheute Wagner. Wagner und seinesgleichen, Leute wie Berlioz und Liszt, sie haen die Musik um dreihundert Jahre zurückgeworfen. Bis Karl-Heinz Stockhausen sie mit seinem Gesang der Jünglinge im Feuerofen wieder auf die Höhe der Zeit gebracht hae.
Wie er so am Schreibtisch stand, fiel sein Blick einen Moment lang auf das letzte 4-D-Foto von Jason Taverner – die Aufnahme, die Katharina Nelson gemacht hae. Ein verdammt gutaussehender Mann, dachte er. Sein gutes Aussehen hat beinahe etwas Professionelles. Nun, er ist ein Sänger; das paßt dazu. Er ist im Schaugeschä.
Er fuhr mit dem Fingernagel über den Rand
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