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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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eine Stütze für das Gewehr. Mit einer spitzen Eisenstange grub er zwei tiefe Löcher, in denen er zwei Astgabeln verankerte, und dann band er eine lange Stange zwischen den Gabeln fest. Diese Konstruktion diente mir als Schießauflage und erlaubte mir, das Gewehr aufs Dach gerichtet zu halten. Don Juan sah zum Himmel und sagte, es sei Zeit für ihn, ins Haus zu gehen. Er stand auf und ging langsam hinein, nachdem er mich zum letztenmal ermahnt hatte, daß mein Vorhaben eine ernste Angelegenheit sei und ich den Vogel mit dem ersten Schuß erwischen mußte. Nachdem Don Juan gegangen war, herrschte noch für einige Minuten Zwielicht, und dann wurde es vollends dunkel. Es schien, als habe die Dunkelheit nur gewartet, bis ich allein sei, um mich dann plötzlich zu überfallen. Ich versuchte meine Augen auf das Dach zu konzentrieren, dessen Umriß sich gegen den Himmel abhob. Einige Zeit war der Horizont noch hell genug, so daß ich die Silhouette des Daches noch deutlich sehen konnte, aber dann wurde der Himmel pechschwarz, und ich konnte das Haus kaum noch ausmachen. Stundenlang hielt ich die Augen aufs Dach gerichtet, ohne etwas zu bemerken. Ein paar Eulen flogen in nördlicher Richtung vorüber; ihre Flügel hatten eine bemerkenswerte Spannweite, man konnte sie nicht mit Amseln verwechseln. Irgendwann jedoch bemerkte ich eindeutig den schwarzen Schatten eines kleinen Vogels, der auf dem Dach landete. Es war zweifellos ein Vogel! Mein Herz schlug schneller. Meine Ohren summten. Ich zielte im Finstern und zog beide Abzüge durch. Die Explosion war ungeheuer laut. Ich spürte an der Schulter den harten Rückstoß des Gewehrlaufs, und gleichzeitig hörte ich einen durchdringenden, grauenhaften menschlichen Schrei. Er war laut und unheimlich und schien vom Dach herzukommen. Für einen Augenblick war ich völlig verwirrt. Dann erinnerte ich mich, daß Don Juan mir aufgetragen hatte, beim Schießen zu schreien, und daß ich dies vergessen hatte. Ich dachte daran, das Gewehr noch einmal zu laden, als Don Juan die Tür öffnete und herausgelaufen kam. Er hatte die Kerosinlampe in der Hand. Er schien sehr nervös.
    »Ich glaube, du hast sie getroffen«, sagte er. »Wir müssen jetzt den toten Vogel suchen.«
    Er holte eine Leiter und ließ mich hinaufklettern und auf der ramada nachschauen, aber ich fand dort nichts. Dann stieg er selbst hinauf und suchte eine Zeitlang, ebenfalls ohne Ergebnis.
    »Vielleicht hast du den Vogel in Fetzen geschossen«, sagte Don Juan. »Aber dann müssen wir wenigstens eine Feder finden.«
    Wir suchten erst in der Nähe der ramada und dann um das ganze Haus herum. Im Licht der Laterne suchten wir bis zum Morgen. Dann schauten wir noch einmal überall dort nach, wo wir während der Nacht gesucht hatten. Gegen elf Uhr morgens brach Don Juan unsere Suche ab. Niedergeschlagen setzte er sich hin, lächelte mich einfältig an und sagte, es sei mir nicht gelungen, seinen Feind aufzuhalten, und nun sei sein Leben weniger denn je einen Pfifferling wert, denn die Frau sei zweifellos verärgert und dürste nach Rache.
    »Aber du bist in Sicherheit«, sagte er. »Die Frau kennt dich nicht.« Als ich zu meinem Wagen ging, um nach Hause zu fahren, fragte ich ihn, ob ich das Gewehr vernichten solle. Er sagte, da das Gewehr nichts ausgerichtet hätte, solle ich es dem Eigentümer zurückgeben. Ich bemerkte einen Anflug tiefer Verzweiflung in Don Juans Augen. Das rührte mich so sehr, daß ich beinah zu weinen anfing. »Was kann ich tun, um dir zu helfen?« fragte ich.
    »Da kann man nichts machen«, sagte Don Juan. Wir schwiegen einen Augenblick. Ich wollte sofort aufbrechen. Ich war bedrückt und litt unter dieser Situation. »Würdest du wirklich versuchen, mir zu helfen?« fragte Don Juan in kindlichem Tonfall.
    Ich versicherte ihm nochmals, daß ich ihm mit meiner ganzen Person zur Verfügung stehen wollte und daß meine Liebe zu ihm so stark sei, daß ich alles versuchen  würde, um ihm zu helfen. Don Juan lächelte und fragte noch einmal, ob ich das wirklich meinte, und ich bestätigte ihm stürmisch meinen Wunsch, ihm zu helfen. »Nun, wenn du es wirklich so meinst«, sagte er, »dann habe ich vielleicht doch noch eine Chance.«
    Er schien hoch erfreut. Er lächelte breit und schlug ein paarmal die Hände zusammen, wie er es immer tut, wenn er seine Freude ausdrücken will. Dieser Stimmungswechsel war so eindrucksvoll, daß er auch mich ergriff. Plötzlich waren die bedrückte Stimmung und die

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