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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Niedergeschlagenheit verschwunden, das Leben war wieder unbeschreiblich aufregend. Don Juan setzte sich hin, und ich tat es ihm nach. Er sah mich lange an und eröffnete mir dann mit sehr ruhigen und überlegten Worten, daß ich tatsächlich der einzige Mensch sei, der ihm im Augenblick helfen konnte, und darum wollte er mich bitten, etwas ganz Besonderes und sehr Gefährliches für ihn zu tun.
    Er machte eine kurze Pause, als warte er auf meine Zustimmung, und ich brachte erneut meinen Wunsch zum Ausdruck, alles nur Mögliche für ihn zu tun. »Ich werde dir eine Waffe geben, mit der du sie aufspießen kannst«, sagte er. Er nahm einen länglichen Gegenstand aus seinem Beutel und reichte ihn mir. Ich nahm ihn in die Hand und untersuchte ihn. Beinah hätte ich ihn fallen lassen. »Es ist ein Wildschwein«, sagte er. »Du mußt sie damit aufspießen.« Der Gegenstand, den ich in der Hand hielt, war der eingetrocknete Vorderlauf eines Wildschweins. Die Haut war widerlich und die Borsten faßten sich ekelhaft an. Der Huf war intakt, und seine beiden Hälften waren gespreizt, als ob das Bein ausgestreckt wäre. Es war ein scheußlich aussehendes Ding. Mir wurde beinah übel. Er nahm es schnell wieder an sich. »Du mußt ihr das Wildschwein direkt in den Nabel rammen«, sagte Don Juan.
    »Was?« fragte ich mit schwacher Stimme. »Du mußt das Wildschwein mit der linken Hand festhalten und sie damit erstechen. Sie ist eine Zauberin, das Wildschwein wird in ihren Bauch eindringen, und niemand auf der Welt, außer einem anderen Zauberer, wird es dort stecken sehen. Dies ist kein gewöhnlicher Kampf, sondern eine Angelegenheit unter Zauberern. Die Gefahr, der du dich aussetzt, besteht darin, daß sie, wenn es dir nicht gelingt, sie aufzuspießen, dich auf der Stelle erschlagen kann, oder daß ihre Verwandten und Gefährten dich erschießen oder erstechen werden. Andererseits kannst du auch ohne einen Kratzer davonkommen. Wenn es dir gelingt, dann wird es ihr mit dem Wildschwein in ihrem Körper höllisch schlecht ergehen, und sie wird mich in Ruhe lassen.«
    Wieder überkam mich eine bedrückende Angst und Niedergeschlagenheit. Ich empfand eine tiefe Liebe für Don Juan. Ich bewunderte ihn. Zu dem Zeitpunkt, da er mit dieser überraschenden Bitte kam, hatte ich bereits seine Lebensform und sein Wissen als eine unvergleichliche Errungenschaft schätzen gelernt. Wie konnte man einen solchen Mann sterben lassen? Und doch, wie konnte jemand vorsätzlich sein Leben riskieren? Ich war so in meine Gedanken versunken, daß ich erst bemerkte, daß Don Juan aufgestanden war und neben mir stand, als er mir auf die Schulter klopfte. Ich sah auf. Er lächelte wohlwollend.
    »Sobald du glaubst, daß du mir wirklich helfen willst, sollst du wiederkommen«, sagte er, »aber nicht vorher. Wenn du wiederkommst, dann werde ich wissen, was wir tun müssen. Geh jetzt! Wenn du nicht wiederkommen willst, dann versteh ich das auch.« Ich stand automatisch auf, stieg in mein Auto und fuhr fort. Don Juan hatte es mir tatsächlich freigestellt. Ich hätte Weggehen und nie wiederkehren können, aber irgendwie vermochte mich der Gedanke, daß ich frei war, nicht zu beruhigen. Ich fuhr noch eine Weile weiter, und dann kehrte ich impulsiv um und fuhr zu Don Juan zurück. Er saß immer noch unter seiner ramada und schien nicht überrascht, mich zu sehen.
    »Setz dich«, sagte er. »Die Wolken im Westen sind schön. Bald wird es dunkel sein. Sitz still und laß das Zwielicht in dich ein. Tu was du willst, aber wenn ich dir ein Zeichen gebe, dann schau direkt auf diese leuchtenden Wolken und bitte das Zwielicht, dir Macht und Ruhe zu geben.«
    Einige Stunden saß ich da und schaute die Wolken im Westen an. Don Juan ging ins Haus und blieb drinnen. Als es dunkel wurde, kehrte er zurück. »Das Zwielicht ist gekommen«, sagte er. »Steh auf! Schließ nicht die Augen, sondern schau direkt auf die Wolken; heb die Arme, öffne die Hände mit gespreizten Fingern und lauf auf der Stelle.«
    Ich befolgte seine Anweisungen. Ich hob die Arme über den Kopf und begann auf der Stelle zu traben. Don Juan trat neben mich und korrigierte meine Bewegungen. Er hielt den Wildschweinlauf an meine linke Handfläche und ließ mich ihn mit dem Daumen festhalten. Dann zog er meine Arme herab, bis sie nach Westen auf die orange-dunkelgrauen Wolken über dem Horizont wiesen. Er spreizte meine Finger fächerartig und befahl mir, sie nicht über den Handflächen anzuwinkeln. Es sei von

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