Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan
Gesichtern vergleichen können. Es war eher ein Schillern, ein rosa Leuchten, ungemein zart und doch wahrnehmbar. Das Summen wurde stärker. Ich schaute mich nach dem Jungen neben mir um, aber er war eingeschlafen. Das rosa Leuchten wurde stärker. Ich sah Don Juan an; seine Augen waren geschlossen; auch die von Don Silvio und Mocho. Die Augen der vier jüngeren Männer konnte ich nicht sehen, weil zwei von ihnen sich vornüber beugten und die beiden anderen mir den Rücken zukehrten. Die Beobachtung nahm mich ganz gefangen. Noch hatte ich mir nicht ganz bewußt gemacht, daß ich tatsächlich ein Summen hörte und tatsächlich einen rosa Schimmer über den Männern schweben sah. Doch im nächsten Augenblick wurde mir bewußt, daß das zartrosa Leuchten und das Summen sehr gleichmäßig waren. Für einen Augenblick war ich zutiefst verwirrt, und gleich darauf stieg in mir ein Gedanke hoch, ein Gedanke, der nichts mit der Szene, deren Zeuge ich hier war, noch etwas mit dem Zweck meines Hierseins zu tun hatte. Ich erinnerte mich an etwas, das meine Mutter mir einmal gesagt hatte, als ich ein Kind war. Der Gedanke war störend und paßte absolut nicht hierher; ich versuchte ihn zu verdrängen und mich wieder ganz auf meine Beobachtung zu konzentrieren, aber das war mir unmöglich. Der Gedanke kehrte wieder. Er wurde stärker, fordernder, und dann hörte ich ganz deutlich die Stimme meiner Mutter nach mir rufen. Ich hörte das Schlurfen ihrer Pantoffeln und dann ihr Lachen. Ich schaute mich um und suchte sie; ich nahm an, daß ich durch irgendeine Halluzination oder Täuschung eine Reise durch die Zeit machte, und erwartete, sie im nächsten Augenblick zu sehen, aber ich sah nur den Jungen neben mir schlafen. Sein Anblick rüttelte mich auf, und ich erlebte einen Augenblick der Erleichterung und Besinnung. Wieder schaute ich zu der Gruppe der Männer hinüber. Sie hatten ihre Haltung kein bißchen verändert. Aber das Leuchten war verschwunden, auch das Summen in meinen Ohren.
Ich war erleichtert. Ich glaubte, die Halluzination, die Stimme meiner Mutter zu hören, sei vorüber. Ihre Stimme war so klar und so lebendig gewesen. Immer wieder sagte ich mir, daß ihre Stimme mich für einen Moment beinah überzeugt hatte. Ich spürte, daß Don Juan mich ansah, kümmerte mich aber nicht darum. Ich war wie hypnotisiert von der Erinnerung an die Stimme meiner Mutter, die mich rief. Ich bemühte mich verzweifelt, an etwas anderes zu denken, und dann hörte ich wieder ihre Stimme so deutlich, als stünde sie hinter mir. Sie rief meinen Namen. Ich fuhr herum, aber ich sah nichts als die dunklen Umrisse der Hütte und der dahinterstehenden Büsche. Meinen Namen zu hören, löste tiefe Furcht in mir aus. Ich wimmerte ungewollt. Ich fror und fühlte mich sehr einsam und begann zu weinen. In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, jemanden zu brauchen, der für mich sorgte. Ich wendete den Kopf zu Don Juan rüber. Er starrte mich an. Ich wollte ihn nicht sehen, daher schloß ich die Augen. Und dann sah ich meine Mutter. Es war nicht der Gedanke an meine Mutter, so wie ich gewöhnlich an sie denke. Es war eindeutig eine klare Vision meiner Mutter, sie stand neben mir. Ich war verzweifelt. Ich zitterte und wollte entfliehen. Die Vision meiner Mutter war zu beunruhigend, zu unvereinbar mit dem, was ich bei diesem Peyotetreffen beabsichtigte. Offenbar gab es keine Möglichkeit, sie bewußt auszuschalten. Vielleicht hätte ich meine Augen öffnen können, wenn ich die Vision wirklich hätte vertreiben wollen, aber statt dessen betrachtete ich sie in allen Einzelheiten. Dieses Betrachten war mehr als ein bloßes Anschauen; es war ein zwanghaftes Überprüfen und Beurteilen. Ein sehr eigenartiges Gefühl überkam mich, das mehr einer von außen kommenden Kraft zu gleichen schien, plötzlich fühlte ich die schreckliche Last der Liebe meiner Mutter. Als ich meinen Namen hörte, wurde ich fast in Stücke gerissen. Die Erinnerung an meine Mutter erfüllte mich mit Angst und Trauer, aber als ich sie betrachtete, erkannte ich, daß ich sie nie geliebt hatte. Das war eine erschütternde Erkenntnis. Gedanken und Bilder stürzten wie eine Lawine auf mich ein. Die Vision meiner Mutter mußte sich in der Zwischenzeit aufgelöst haben; sie hatte keine Bedeutung mehr. Mich interessierte nicht mehr, was die Indianer taten. Selbst das mitote hatte ich vergessen. Ich war in eine Kette ungewöhnlicher Gedanken versunken, ungewöhnlich, weil es mehr als
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