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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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versuchte zu sprechen, aber ich spürte, daß ich mich nicht auf das konzentrieren konnte, was ich sagen wollte, obwohl meine Gedanken sehr klar waren. Ich wunderte mich, als ich erkannte, wieviel Konzentration ich zum Sprechen brauchte. Ich stellte auch fest, daß ich, um etwas sagen zu können, aufhören mußte, etwas anzusehen. Ich hatte den Eindruck, daß ich irgendwo tief unten festgehalten wurde und daß ich, wenn ich sprechen wollte wie ein Taucher zur Oberfläche auftauchen mußte. Ich mußte aufsteigen, als zöge ich mich an meinen Worten empor. Zweimal gelang es mir, mich ganz normal zu räuspern. Ich hätte daraufhin sagen können, was ich wollte, aber ich tat es nicht . Ich zog es vor, in dieser seltsamen tiefen Ebene des Schweigens zu bleiben, wo ich nur schauen konnte. Ich hatte das Gefühl, daß ich anfing, mich dem zu nähern, was Don Juan sehen genannt hatte, und das machte mich sehr glücklich. Später gab mir Don Juan etwas Suppe und Tortillas zu essen. Ich konnte ohne Schwierigkeiten essen, ohne das zu verlieren, was ich für meine »Kraft zu sehen« hielt. Ich konzentrierte meinen Blick auf alles um mich her. Ich war überzeugt, daß ich alles sehen konnte, und dennoch sah die Welt, so weit ich es beurteilen konnte, wie immer aus. Ich strengte mich an zu sehen, bis es ganz dunkel war. Schließlich wurde ich müde, legte mich nieder und schlief ein.
    Ich erwachte, als Don Juan mich mit einer Decke zudeckte. Ich hatte Kopfschmerzen und mir war schlecht. Nach einiger Zeit fühlte ich mich besser, und dann schlief ich fest bis in den nächsten Tag.
    Morgens war ich wieder ich selbst. Gespannt fragte ich Don Juan: »Was ist mit mir geschehen?«
    Don Juan lachte trocken. »Du suchtest den Wächter, und natürlich bist du ihm auch begegnet.«
    »Aber was war das, Don Juan?«
    »Der Wächter, der Wärter, der Bewacher der anderen Welt«, sagte Don Juan sachlich.
    Ich hatte vor, ihm dieses unheimliche und häßliche Tier in allen Einzelheiten zu schildern, aber er ließ mich nicht zu Wort kommen und sagte, mein Erlebnis sei nichts Besonderes, jeder brächte so etwas fertig.
    Ich sagte ihm, daß der Wächter so ein Schock für mich gewesen sei, daß ich noch gar nicht dazugekommen war, darüber nachzudenken.
    Don Juan lachte und machte sich lustig über das, was er meinen Hang zur Übertreibung nannte.
    »Dieses Ding, was immer es gewesen sein mag, hat mir einen sehr schmerzhaften
    Schlag versetzt«, sagte ich. »Es war so real wie du und ich.«
    »Natürlich war es real. Es hat dir Schmerzen zugefügt, nicht wahr?«
    Als ich mich an mein Erlebnis erinnerte, wurde ich ganz aufgeregt. Don Juan befahl  mir, mich zu beruhigen. Dann fragte er mich, ob ich wirklich Angst davor gehabt hätte. Er betonte das Wort >wirklich<.
    »Ich war versteinert«, sagte ich. »Nie im Leben habe ich eine so furchtbare Angst gehabt.«
    »Ach was«, sagte er lachend. «So viel Angst hattest du gar nicht.«
    »Ich schwöre dir«, sagte ich aus tiefster Überzeugung, »wenn ich mich hätte  bewegen können, wäre ich hysterisch davongerannt.«
    Er fand meine Bemerkung sehr komisch und brüllte vor Lachen.
    »Welchen Sinn hatte es, mich dieses Ungeheuer sehen zu lassen, Don Juan?«
    Er wurde ernst und sah mich an.
    »Das war der Wächter«, sagte er. »Wenn du sehen willst, mußt du den Wächter überwinden.«
    »Aber wie kann ich ihn überwinden, Don Juan? Er ist fast dreißig Meter groß.«
    Don Juan lachte, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen.
    »Warum läßt du dir nicht erzählen, was ich gesehen habe. Dann würden wir uns  nicht mißverstehen«, sagte ich. »Wenn es dich glücklich macht, na los, erzähl's mir.«
    Ich erzählte ihm alles, woran ich mich erinnern konnte, aber das schien ihn nicht  umzustimmen.
    »Und wenn schon, das ist nichts Neues«, sagte er lächelnd. »Aber wie soll ich ein solches Ungeheuer überwinden? Womit?«
    Er schwieg ziemlich lange. Dann drehte er sich zu mir herum und sagte: »Du hattest keine Angst, nicht wirklich. Du wurdest verletzt, aber du hattest keine Angst.« Er lehnte sich gegen einige Säcke und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ich glaubte, er hatte das Thema fallengelassen.
    »Du weißt«, sagte er plötzlich und schaute zum Dach der ramada hinauf, »jeder kann den Wächter sehen. Und manchmal ist der Wächter für einige von uns ein furchterregendes Monstrum, groß bis zum Himmel hinauf. Du hattest Glück; bei dir war er nur dreißig Meter groß. Und doch ist sein

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