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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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selbst weniger gefährlich ist. Wenn du versuchst, den Wächter ohne die Hilfe des Rauchs zu sehen, dann besteht die Möglichkeit, daß du es versäumst, dich vor ihm in Sicherheit zu bringen. In deinem Fall zum Beispiel ist es offenbar, daß der Wächter dich warnte, als er dir den Rücken zuwandte, er wollte dir deine feindliche Farbe zeigen. Dann entfernte er sich. Aber als er wiederkam, warst du noch immer da, darum griff er dich an. Du warst aber vorbereitet und sprangst auf. Der kleine Rauch gab dir den Schutz, den du brauchtest. Hättest du diese Welt ohne seine Hilfe betreten, dann hättest du dich dem Griff des Wächters nicht entziehen können.«
»Warum nicht?«
»Deine Bewegungen wären zu langsam gewesen. Um in jener Welt zu überleben, mußt du schnell wie der Blitz sein. Es war ein Fehler, dich im Zimmer allein zu lassen, aber ich wollte nicht mehr mit dir reden. Du bist ein Schwätzer, darum sprichst du selbst gegen deinen Willen. Wäre ich bei dir gewesen, dann hätte ich deinen Kopf hochgerissen. So bist du selbst aufgesprungen, und das ist noch besser. Immerhin würde ich ein solches Risiko nicht noch einmal eingehen; mit dem Wächter ist nicht zu spaßen.«

9.
    Drei Monate lang vermied Don Juan systematisch jedes Gespräch über den Wächter. In diesen drei Monaten stattete ich ihm vier Besuche ab; jedesmal beschäftigte er mich damit, für ihn Besorgungen zu machen, und wenn ich die Besorgungen erledigt hatte, schickte er mich wieder nach Hause. Am 24. April 1969, als ich zum vierten Mal bei ihm war, stellte ich ihn schließlich, nachdem wir Mittag gegessen hatten und neben dem Erdofen saßen, zur Rede. Ich sagte ihm, daß er sich mir gegenüber widersprüchlich verhielte; ich sei bereit zu lernen, aber er wolle mich nicht bei sich haben. Es sei mir sehr schwergefallen, meine Abneigung gegen seine halluzinogenen Pilze zu überwinden, und ich sei der Meinung, daß ich, wie er selbst gesagt hatte, keine Zeit verlieren dürfe. Don Juan hörte sich meine Klagen geduldig an.
    »Du bist schwach«, sagte er. »Du eilst, wenn du warten solltest, und du wartest, wenn du eilen solltest. Du denkst zuviel nach. Jetzt glaubst du, du hättest keine Zeit zu verlieren. Noch vor kurzem dachtest du, du willst nie mehr rauchen. Dein Leben ist verdammt schlaff; du bist nicht fest genug, um dem kleinen Rauch zu begegnen. Ich bin verantwortlich für dich, und ich will nicht, daß du wie ein elender Narr verreckst.« Ich war verlegen.
    »Was kann ich tun, Don Juan? Ich bin sehr ungeduldig.«
»Leb wie ein Krieger! Ich habe dir bereits gesagt, daß ein Krieger die volle Verantwortung für seine Taten auf sich nimmt; auch für seine allerunbedeutendsten Taten. Du lebst deine Gedanken aus, und das ist falsch. Wegen deiner Gedanken hast du beim Wächter versagt.«
»Wie habe ich versagt, Don Juan?«
    »Du denkst über alles nach. Du dachtest über den Wächter nach, und darum konntest du ihn nicht überwinden. Zunächst mußt du leben wie ein Krieger. Ich glaube, das verstehst du sehr gut.«
    Ich wollte etwas zu meiner Verteidigung einwerfen, aber er brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Dein Leben ist ziemlich fest«, fuhr er fort. »Wirklich, dein Leben ist fester als das von Pablito oder Nestor, den Schülern Genaros, und trotzdem sehen sie, und du nicht. Dein Leben ist fester als Eligios Leben, und er wird wahrscheinlich vor dir sehen. Das verblüfft mich. Selbst Genaro kommt darüber nicht hinweg. Du hast getreulich alles ausgeführt, was ich dir aufgetragen habe. Alles, was mein Wohltäter mich in der ersten Phase des Lernens gelehrt hatte, habe ich dir weitergegeben. Die Regel ist richtig, die Schritte können nicht verändert werden. Du hast alles getan, was man tun muß, und trotzdem siehst du nicht; aber jenen, die sehen, wie Genaro, erscheinst du, als könntest du sehen. Ich verlasse mich darauf und falle daran! rein. Du wendest dich immer wieder ab und benimmst dich wie ein Idiot, der nicht sieht, was für dich auch sicherlich richtig ist.« Don Juans Worte schmerzten mich tief. Ich wußte nicht warum, aber ich war den Tränen nah. Ich begann über meine Kindheit zu sprechen, und eine Woge des Selbstmitleids übermannte mich. Don Juan starrte mich einen kurzen Moment an und wandte dann die Augen ab. Es war ein durchdringender Blick. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, als hätte er mich mit seinen Augen berührt. Ich hatte die Empfindung, von zwei Fingern sanft gekniffen zu werden, und ich

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