Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan
Eine starke Macht kündigt sich immer mit starken Schmerzen an.
Wenn die Krämpfe aufhören, bemerkt der Krieger, daß er über eigenartige Gefühle verfügt. Er stellt fest, daß er tatsächlich alles, was er will, mit einem Gefühl berühren kann, das aus seinem Körper, aus einer Stelle direkt unter oder über seinem Nabel heraustritt. Dieses Gefühl ist der Wille. Und wenn er fähig ist, mit ihm die Dinge zu ergreifen, dann kann man mit Recht sagen, daß der Krieger ein Zauberer ist und daß er den Willen erlangt hat.«
Don Juan hörte auf zu sprechen und schien auf eine Frage von mir zu warten. Ich hatte nichts zu sagen. Der Gedanke, daß ein Zauberer Schmerzen und Krämpfe durchmachen mußte, beschäftigte mich stark, aber ich scheute mich, ihn zu fragen, ob auch mir dies bevorstünde. Schließlich, nach längerem Schweigen, fragte ich ihn doch, und er schmunzelte, als hätte er meine Frage vorausgeahnt. Er sagte, daß der Schmerz nicht absolut notwendig sei; er zum Beispiel hätte ihn nie durchgemacht, ihm sei der Wille einfach zugeflogen. »Eines Tages war ich in den Bergen«, sagte er, »und stieß direkt auf einen Puma, ein Weibchen; sie war groß und hungrig. Ich lief davon, und sie lief mir nach. Ich kletterte auf einen Felsen, und sie stand, ein paar Schritte entfernt, bereit zum Sprung. Ich bewarf sie mit Steinen. Sie knurrte und griff mich an. In diesem Augenblick kam mein Wille ganz zum Vorschein, und bevor sie mich ansprang, hielt ich sie mit meinem Willen auf. Ich liebkoste sie mit meinem Willen. Ich streichelte ihr tatsächlich die Zitzen. Sie sah mich mit schläfrigen Augen an und legte sich hin. Und ich lief wie der Teufel, ehe die Wirkung bei ihr nachließ.« Mit einer sehr komischen Bewegung machte Don Juan einen Mann nach, der ums nackte Leben läuft und dabei seinen Hut festhält.
Der Gedanke, daß mir Berglöwen oder Krämpfe bevorstanden, wenn ich den Willen gewinnen wollte, erschreckte mich.
»Mein Wohltäter war ein Zauberer von großer Macht«, fuhr er fort. »Er war ein Krieger durch und durch. Sein Wille war gewiß seine erstaunlichste Fähigkeit. Aber ein Mensch kann darüber hinaus noch weitergehen, er kann lernen zu sehen. Wenn er sehen lernt, dann muß er nicht mehr wie ein Krieger leben oder ein Zauberer sein. Wenn er sehen lernt, wird ein Mann alles, indem er nichts wird. Er verschwindet sozusagen, und ist immer noch da. In diesem Moment, behaupte ich, kann er alles bekommen und alles sein, was er nur will. Aber er wünscht nichts, und statt mit seinen Mitmenschen zu spielen, als seien sie Spielzeug, teilt er mit ihnen ihre ganze Torheit. Der einzige Unterschied zwischen ihm und ihnen ist, daß ein Sehender seine Torheit kontrolliert, während seine Mitmenschen dies nicht können. Ein Sehender hat kein aktives Interesse mehr an seinen Mitmenschen. Das Sehen hat ihn bereits von allem losgelöst, was er vorher wußte.«
»Der bloße Gedanke, von allem, was ich weiß, losgelöst zu sein, läßt mich schaudern«, sagte ich.
»Das kann nicht dein Ernst sein! Nicht der Gedanke an das, was dir bevorsteht, sondern die Vorstellung, daß du ein Leben lang das tun mußt, was du immer getan hast, sollte dich schaudern lassen. Denk an den Mann, der Jahr für Jahr Korn sät, bis er zu alt und zu schwach ist, um aufzustehen, und dann herumliegt wie ein alter Hund. Seine Gedanken und Gefühle, das beste in ihm, kreisen ziellos um das einzige, was er immer getan hat, das Kornsäen. Für mich ist das die furchtbarste Verschwendung, die es gibt. Wir sind Menschen, und es ist unser Schicksal, zu lernen und uns in die unvorstellbaren neuen Welten schleudern zu lassen.«
»Gibt es wirklich neue Welten für uns?« fragte ich halb im Scherz. »Wir haben noch nichts ausgeschöpft, du Narr«, sagte er gebieterisch. »Sehen ist etwas für makellose Menschen. Mäßige deinen Geist, werde ein Krieger, lerne sehen, und dann wirst du die Endlosigkeit der neuen Welten unserer Vision erkennen.«
11.
Nachdem ich seine Besorgungen erledigt hatte, schickte Don Juan mich diesmal nicht fort, wie er es vor kurzem getan hatte. Er sagte, ich könne bleiben, und am nächsten Tag, dem 28. Juni 1969, sagte er mir gegen Mittag, daß ich wieder rauchen sollte.
»Soll ich wieder versuchen, den Wächter zu sehen?«
»Nein, das ist vorbei. Das ist jetzt etwas anderes.« In aller Ruhe füllte Don Juan die Rauchmixtur in die Pfeife, zündete sie an und reichte sie mir. Ich hatte keine Angst. Sofort überkam mich eine
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