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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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kleiner Junge. Sein Vater zu sein, war mir wichtiger als alles andere auf der Welt. Mir gefiel der Gedanke, seinen Charakter zu formen, ihn auf Wanderungen mitzunehmen und ihn »das Leben« zu lehren, und trotzdem verabscheute ich die Vorstellung, ihm meine Lebensform aufzuzwingen, aber genau das war es, was ich würde tun müssen: ihn mit Gewalt oder jenen kunstvollen Argumenten und Belohnungen, die wir Verständnis nennen, unter Zwang setzen.
    »Ich muß ihn in Ruhe lassen«, dachte ich. »Ich darf mich nicht an ihn klammern. Ich muß ihm die Freiheit lassen.« Diese Gedanken waren von einer beängstigenden Trauer begleitet. Ich fing an zu weinen. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und das Bild der Veranda verschwamm. Plötzlich verspürte ich das starke Bedürfnis, aufzustehen und nach Don Juan zu suchen, um ihm von meinem kleinen Sohn zu erzählen. Als nächstes erkannte ich, daß ich die Veranda aus einer aufrechten Haltung überblickte. Ich drehte mich nach dem Haus um - und da stand Don Juan direkt vor mir. Offenbar hatte er die ganze Zeit dort gestanden. Obwohl ich meine Schritte nicht spürte, muß ich auf ihn zugegangen sein, denn ich bewegte mich. Don Juan kam mir lächelnd entgegen und hielt mich an den Ellbogen fest. Sein Gesicht war nah vor mir. »Gute Arbeit«, sagte er lobend. In diesem Augenblick wurde mir bewußt, daß sich hier und jetzt etwas  Außerordentliches abspielte. Zuerst hatte ich den Eindruck, daß ich mich nur an ein Ereignis erinnerte, das vor Jahren stattgefunden hatte. Früher einmal hatte ich Don Juans Gesicht aus sehr kurzer Distanz gesehen. Ich hatte seine Mixtur geraucht und anschließend geglaubt, Don Juans Gesicht in einem Wasserbassin schwimmen zu sehen. Es war riesengroß, es leuchtete und bewegte sich. Die Erscheinung war so kurz gewesen, daß ich keine Zeit gehabt hatte, um mir wirklich darüber klarzuwerden. Diesmal aber hielt mich Don Juan fest, sein Gesicht war weniger als dreißig Zentimeter von dem meinen entfernt, und ich hatte Zeit, es zu betrachten. Nachdem ich aufgestanden war und mich umgedreht hatte, sah ich eindeutig Don Juan. Der »Don Juan, den ich kenne«, ging zweifellos auf mich zu und hielt mich fest. Aber als ich t den Blick auf sein Gesicht richtete, sah ich nicht mehr den Don Juan, den ich zu sehen gewohnt war. Statt dessen sah ich einen großen Gegenstand vor meinen Augen. Ich wußte, daß es Don Juans Gesicht war, aber dieses Wissen rührte nicht von meiner Wahrnehmung her. Es war eher eine logische Schlußfolgerung meinerseits. Immerhin bestätigte mir mein Gedächtnis, daß der »Don Juan, den ich kenne« mich eben vorhin an den Ellenbogen gehalten hatte. Darum mußte das seltsame leuchtende Objekt vor meinen Augen Don Juans Gesicht sein. Mit diesem hatte es auch einige Ähnlichkeit. Aber es war nicht dem ähnlich, was ich Don Juans »wirkliches« Gesicht nennen würde. Was ich erblickte, war ein runder Gegenstand, der von innen heraus leuchtete. Alle Einzelheiten darin bewegten sich. Ich erkannte eine gedämpfte rhythmische Wellenbewegung. Es war, als ob diese Bewegung auf sich selbst beschränkt war und nie über ihre Grenzen hinausgriff, und dennoch strahlte das Objekt vor meinen Augen an jeder Stelle seiner Oberfläche Bewegung aus. Ich dachte daran, daß es Leben ausstrahlte. Tatsächlich war es so lebendig, daß ich ganz davon in Anspruch genommen war, seine Bewegung zu betrachten. Es war eine faszinierende Vibration. Sie wurde immer eindrucksvoller, bis ich nicht mehr wußte, was dieses Phänomen vor meinen Augen war. Plötzlich spürte ich einen Schlag. Das leuchtende Objekt verschwamm, als werde es irgendwie geschüttelt, und dann verlor sich das Leuchten, und es wurde fest und fleischig. Dann sah ich Don Juans vertrautes, dunkles Gesicht. Er lächelte gutmütig. Der Anblick seines wirklichen Gesichts dauerte einen Augenblick, und dann begann das Gesicht wieder zu leuchten, zu glühen und zu schillern. Es war nicht das, was ich normalerweise als Licht oder gar als Glühen wahrgenommen hätte. Eher war es Bewegung, ein unglaublich schnelles Flimmern. Das glühende Objekt begann wieder auf- und abzuhüpfen, und dadurch brach die dauernde Wellenbewegung ab. Durch das Rütteln verschwand der Glanz, und wieder erschien Don Juans »solides« Gesicht, wie ich es im täglichen Leben kenne. In diesem Augenblick bemerkte ich vage, daß Don Juan mich schüttelte. Er sprach zu mir. Ich verstand nicht, was er sagte, erst als er fortfuhr mich zu

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