Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
Vom Netzwerk:
schütteln, verstand ich ihn endlich. »Starr mich nicht an. Starr mich nicht an«, sagte er immer wieder. »Hör auf mich anzustarren. Hör auf mich anzustarren. Schau weg!« Anscheinend zwang mich das Schütteln, meinen starren Blick abzuwenden. Wenn ich Don Juans Gesicht nicht absichtlich anschaute, dann sah ich offenbar nicht das leuchtende Objekt. Wenn ich die Augen abwandte und es sozusagen aus dem Augenwinkel ansah, dann erkannte ich seine festen Umrisse; das heißt, ich konnte einen dreidimensionalen Menschen erkennen. Ohne ihn direkt anzusehen, konnte ich tatsächlich seinen ganzen Körper wahrnehmen, aber wenn ich meinen Blick konzentrierte, verwandelte sich das Gesicht sofort wieder in das leuchtende Objekt. »Schau mich überhaupt nicht an«, sagte Don Juan ernst. Ich wandte die Augen ab und schaute auf den Boden. »Du sollst den Blick auf nichts Bestimmtes richten«, sagte Don Juan energisch und trat zur Seite, um mir beim Gehen behilflich zu sein. Ich spürte meine Schritte nicht und konnte nicht feststellen, wie es mir gelang zu gehen, aber mit Don Juans Hilfe, der mich am Ellbogen hielt, gelangten wir schließlich hinter sein Haus. Am Bewässerungsgraben blieben wir stehen. »Jetzt schau das Wasser an«, befahl Don Juan. Ich schaute auf das Wasser, aber ich konnte es nicht anstarren. Irgendwie erregte mich die strömende Bewegung. Don Juan forderte mich spaßhaft auf, die »Macht meines Blickes« zu gebrauchen, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich starrte noch einmal Don Juans Gesicht an, aber das Glühen erschien nicht wieder.
    Dann spürte ich ein eigenartiges Jucken im Körper, ähnlich dem Kribbeln eines eingeschlafenen Gliedes. Meine Beinmuskeln begannen zu zucken. Don Juan stieß mich ins Wasser, und ich stolperte hinein und sank auf den Grund. Offenbar hielt er mich dabei an der rechten Hand fest, denn als ich den seichten Boden berührte, zog er mich wieder hinauf. Ich brauchte lange, um die Beherrschung wiederzufinden. Als wir Stunden später zum Haus zurückkehrten, bat ich ihn, mir mein Erlebnis zu erklären. Während ich die trockenen Kleider anzog, beschrieb ich ihm aufgeregt meine Wahrnehmungen, aber er schob meinen Bericht mit dem Einwand beiseite, daß dies nichts Besonderes sei.
    »Großartig!« spottete er. »Du hast ein Glühen gesehen, wie großartig!«
    Ich forderte eine Erklärung, aber er stand auf und sagte, er müsse gehen. Es war  gegen fünf Uhr nachmittag.
    Am nächsten Tag versuchte ich wieder, mein eigenartiges Erlebnis zu besprechen. »War das sehen, Don Juan?« fragte ich. Er schwieg und lächelte geheimnisvoll, während ich eine Antwort aus ihm herauszubringen suchte.
    »Sagen wir mal, das Sehen ist so ähnlich«, sagte er schließlich. »Du hast mein Gesicht angestarrt und es leuchten gesehen, aber es war immer noch mein Gesicht. Es kommt manchmal vor, daß der kleine Rauch einen so starren läßt. Das hat nichts zu sagen.«
    »Aber inwiefern ist das Sehen anders?«
»Wenn du siehst, dann gibt es keine vertrauten Bilder mehr auf der Welt. Alles ist neu. Nichts war schon einmal da. Die Welt ist unglaublich!«
    »Warum sagst du >unglaublich<, Don Juan? Was macht sie unglaublich?«
»Nichts ist mehr vertraut, alles, was du anschaust, wird zu nichts. Gestern hast du nicht gesehen. Du starrtest mein Gesicht an, und da du mich magst, konntest du mein Leuchten bemerken. Ich war nicht monströs wie der Wächter, sondern schön und interessant. Aber du hast mich nicht gesehen. Ich habe mich nicht vor deinen Augen zu einem Nichts aufgelöst. Und trotzdem hast du's gut gemacht. Du hast den ersten wirklichen Schritt zum Sehen getan. Der einzige Fehler war, daß du deine Augen auf mich konzentriertest, und in diesem Fall bin ich nicht besser als der Wächter für dich. Du bist in beiden Fällen unterlegen und hast nichts gesehen.«
»Wie verschwinden die Dinge? Wie werden sie zu nichts?«
»Die Dinge verschwinden nicht. Sie lösen sich nicht auf, wenn es das ist, was du meinst. Sie werden einfach zu nichts, und trotzdem sind sie immer noch da.«
    »Wie kann das möglich sein, Don Juan?«
»Du bist verdammt beharrlich im Reden«, sagte Don Juan mit ernstem Gesicht. »Wir haben uns über dein Versprechen geirrt. Vielleicht hast du in Wirklichkeit versprochen, nie, nie aufzuhören zu reden.« Don Juans Stimme war ernst. Er machte ein besorgtes Gesicht. Ich wollte lachen, aber ich wagte es nicht. Ich glaubte, Don Juan sei es ernst, aber das war nicht der Fall. Er lachte. Ich

Weitere Kostenlose Bücher