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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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sein »Geisterfänger« fingen mit einem Schwirren bei niedriger Spannung an. Langsam steigerte er die Spannung, und zuerst hörte ich eine Art Nachhall und dann ein eindeutiges Echo, das direkt aus Südosten kam. Die Spannung nahm zu. Don Juan und sein »Geisterfänger« waren vollkommen aufeinander abgestimmt. Die Saite brachte einen tiefen Ton hervor, und Don Juan verstärkte ihn mit immer intensiver werdenden Rufen, die sich schließlich zu einem durchdringenden Schrei, einem heulenden Ruf steigerten. Der Höhepunkt war ein unheimliches Kreischen, unvorstellbar vom Standpunkt meiner Erfahrung aus. Das Geräusch hallte in den Bergen wider, und das Echo kam zu uns zurück. Ich bildete mir ein, es käme direkt auf mich zu. Es war, als hätte es etwas mit meiner Körpertemperatur zu tun. Bevor Don Juan mit seinen Rufen begonnen hatte, war mir sehr warm und angenehm gewesen, aber als seine Schreie ihren Höhepunkt erreichten, schauderte ich. Meine Zähne klapperten unkontrollierbar, und ich hatte wirklich das Gefühl, mich überkomme etwas. Irgendwann bemerkte ich, daß der Himmel sich stark verfinstert hatte. Ich hatte den Himmel, obwohl ich hinauf blickte, nicht bewußt wahrgenommen. Einen Augenblick überfiel mich heftige Panik, und ich schrie das Wort heraus, das Don Juan mich gelehrt hatte.
    Sofort dämpfte Don Juan die Vehemenz seiner unheimlichen Schreie, aber das brachte mir keine Erleichterung. »Halt dir die Ohren zu«, murmelte Don Juan in befehlendem Ton.
    Ich bedeckte sie mit den Händen. Nach ein paar Minuten hörte Don Juan ganz auf und trat neben mich. Nachdem er die Zweige und Blätter von meinem Bauch entfernt hatte, half er mir auf und legte sie vorsichtig auf den Felsen, auf dem ich gelegen hatte. Er zündete sie an, und während das Feuer brannte, rieb er mir den Bauch mit anderen Blättern aus seinem Beutel ein. Gerade wollte ich sagen, daß ich furchtbare Kopfschmerzen hatte, da legte er mir die Hand auf den Mund. Wir blieben dort, bis die Blätter verbrannt waren. Es war schon recht dunkel. Wir gingen den Berg hinunter, und mir wurde übel.
    Als wir am Bewässerungsgraben vorbeikamen, sagte Don Juan, ich hätte genug geleistet und solle nicht länger bleiben. Ich bat ihn, mir zu erklären, was der Geist des Wasserloches war, aber er bedeutete mir mit einer Handbewegung, still zu sein. Er sagte, wir würden ein andermal darüber sprechen, und dann wechselte er absichtlich das Thema und gab mir eine lange Erläuterung über das Sehen. Er sagte, es sei bedauerlich, daß ich nicht im Dunklen schreiben konnte. Er freute sich sehr darüber und sagte, daß ich meist nicht darauf achtete, was er sagte, weil ich so damit beschäftigt sei, alles niederzuschreiben.
    Er bezeichnete das Sehen als einen von den Verbündeten und den Techniken der Zauberei unabhängigen Vorgang. Ein Zauberer sei ein Mensch, der einem Verbündeten Befehle geben und dadurch die Macht des Verbündeten zu seinem Vorteil manipulieren konnte, aber die Tatsache, daß er über einen Verbündeten verfügte, bedeutete noch nicht, daß er sehen konnte. Ich erinnerte ihn daran, daß er mir früher mal gesagt hatte, daß es ohne einen Verbündeten unmöglich sei zu sehen. Don Juan antwortete ganz ruhig, daß er inzwischen zu dem Schluß gekommen war, es sei doch möglich zu sehen, ohne über einen Verbündeten zu verfügen. Er meinte, es gebe keinen Grund, warum das nicht so sein sollte, denn das Sehen habe nichts mit den Manipulationstechniken der Zauberei zu tun, sie dienten nur dazu, auf unsere Mitmenschen einzuwirken. Die Techniken des Sehens andererseits hätten keine Auswirkungen auf Menschen.
    Meine Gedanken waren sehr klar. Ich war weder müde noch schläfrig und hatte auch kein unangenehmes Gefühl mehr im Magen, während ich neben Don Juan herging. Ich war furchtbar hungrig, und als wir zu seinem Haus kamen, stürzte ich mich auf das Essen. Anschließend bat ich ihn, mir mehr über die Techniken des Sehens zu sagen. Er lächelte mich breit an und sagte, ich sei schon wieder der alte. »Wie kommt es«, fragte ich, »daß die Techniken des Sehens keine Auswirkungen auf unsere Mitmenschen haben?«
»Ich habe es dir schon einmal gesagt«, meinte er »Sehen ist nicht Zauberei. Und doch kann man sie leicht verwechseln, denn ein Sehender kann jederzeit lernen, einen Verbündeten zu manipulieren, und kann ein Zauberer werden. Andererseits kann ein Mensch durchaus bestimmte Techniken lernen, um einen Verbündeten zu kommandieren, und

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