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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Einzelheiten einer Schlucht oder eines Wassergrabens am Fuß des Berges zu beobachten. Von dort, wo ich saß, erschien der Graben als ein tiefer Einschnitt, dessen grüne Vegetation sich deutlich vom trockenen Hügel abhob. Das Grün schienen Bäume zu sein, die am Boden der Schlucht wuchsen. Ein leichter Wind wehte mir in die Augen. Ich hatte ein Gefühl von Frieden und tiefster Ruhe. Weder Vögel noch Insekten waren zu hören. Don Juan sprach wieder zu mir. Es dauerte etwas, bis ich verstand, was er sagte. »Siehst du den Mann dort auf dem Feld?« fragte er immer wieder. Ich wollte ihm sagen, daß es dort auf dem Feld keinen Mann gab, aber ich konnte die Worte nicht herausbringen. Don Juan nahm von hinten meinen Kopf zwischen die Hände — ich konnte seine Finger über meinen Augenbrauen und auf meinen Wangen sehen — und ließ meinen Blick über das Feld gleiten, wobei er meinen Kopf langsam von links nach rechts und dann in umgekehrter Richtung führte. »Beobachte alle Einzelheiten. Dein Leben könnte davon abhängen«, hörte ich ihn immer wieder sagen. Viermal ließ er meinen Blick über einen Gesichtskreis von 180 Grad schwenken. Irgendwann, als er meinen Kopf ganz nach links gedreht hatte, glaubte ich auf dem Feld etwas zu entdecken, das sich bewegte. Aus dem rechten Augenwinkel nahm ich kurz eine Bewegung wahr. Er führte meinen Kopf wieder nach rechts, und ich konnte meinen Blick auf das gepflügte Feld konzentrieren. Dort sah ich einen Mann die Furchen entlangschreiten. Er war ein einfacher Mann, gekleidet wie ein mexikanischer Bauer. Er trug Sandalen, hellgraue Hosen, ein langärmeliges, beiges Hemd und einen Strohhut; an seiner rechten Schulter hing ein hellbrauner Sack an einer Schnur. Don Juan hatte wohl bemerkt, daß ich den Mann gesehen hatte. Er fragte mich mehrmals, ob der Mann mich anschaute, oder ob er auf mich zukam. Ich wollte ihm sagen, daß der Mann davonging und mir den Rücken zuwandte, aber ich konnte nur »Nein« sagen. Don Juan sagte, wenn der Mann sich umdrehte und auf mich zuginge, dann sollte ich schreien, und er würde meinen Kopf wegdrehen, um mich zu schützen.
    Ich empfand keinerlei Befangenheit oder Anteilnahme. Ich beobachtete das Schauspiel gelassen. Der Mann blieb in der Mitte des Feldes stehen. Er stand mit dem rechten Fuß auf der Kante eines großen, runden Felsblocks, als würde er seine Sandale zubinden. Dann richtete er sich auf, zog eine Schnur aus seinem Sack und wickelte sie um die linke Hand. Er wandte mir den Rücken zu, blickte zum Hügel hinauf und suchte mit den Augen die Fläche vor ihm ab. Daß er etwas suchte, schloß ich aus der Art, wie er den Kopf bewegte und langsam nach links drehte; ich sah ihn im Profil, und dann drehte er sich mit dem ganzen Körper zu mir um und sah mich an. Er hob sogar den Kopf, oder er machte eine Bewegung, die mir zweifelsfrei anzeigte, daß er mich gesehen hatte. Er streckte seinen linken Arm nach vorn und deutete auf den Boden, und den Arm in dieser Stellung haltend, begann er auf mich zuzugehen.
    »Er kommt«, schrie ich ohne jede Schwierigkeit. Don Juan mußte wohl meinen Kopf beiseite gedreht haben, denn als nächstes sah ich den Chaparral. Er befahl mir, die Dinge nicht »anzustarren«, sondern den Blick »leicht« über sie hinweggleiten zu lassen. Er sagte, er würde sich kurz vor mir aufstellen und dann auf mich zugehen, und ich sollte ihn direkt anschauen, bis ich sein Glühen sähe. Ich sah, wie Don Juan zu einer Stelle ging, die vielleicht zwanzig Meter entfernt war. Er ging mit unglaublicher Geschwindigkeit und Behendigkeit, ich konnte kaum glauben, daß es Don Juan war. Er drehte sich um, sah mich an und befahl mir, ihn anzustarren.
    Sein Gesicht glühte. Es sah aus wie ein Lichtfleck. Das Licht schien fast seine ganze Brust zu überfluten. Es war, als sähe ich durch die halbgeschlossenen Augenlider in ein Licht. Das Leuchten schien sich auszudehnen und wieder zusammenzuziehen. Er hatte offenbar begonnen, auf mich zuzugehen, denn das Licht wurde stärker und deutlicher sichtbar. Er sagte etwas zu mir. Ich gab mir Mühe, ihn zu verstehen und verlor das Leuchten aus den Augen, und dann sah ich Don Juan, so wie ich ihn täglich sehe. Er war ein paar Meter von mir entfernt. Er setzte sich mir gegenüber. Als ich meine Aufmerksamkeit wieder auf sein Gesicht heftete, nahm ich ein vages Leuchten wahr. Dann war es, als sei sein Gesicht kreuz und quer von Lichtstrahlen überzogen. Don Juans Gesicht sah aus, als ob jemand

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